Weltformel:Globaler Kummerkasten

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"Wenn wir Google und seinen Konkurrenten Zugang zu unseren biometrischen Geräten, zu unseren DNA-Scans und zu unseren Krankenakten gewähren, bekommen wir allwissende Gesundheitsdienste." - Yuval Noah Harari . (Foto: Olivier Middendorp/dpa)

Yuval Noah Harari weiß inzwischen einfach alles - und löst deshalb in seinem neuen Buch die wichtigsten Probleme unserer Zeit.

Von Christoph Bartmann

Yuval Noah Harari begann seine publizistische Karriere als Militärhistoriker mit dem Schwerpunkt Mittelalter und Frühe Neuzeit, schrieb dann die überaus erfolgreiche "Kurze Geschichte der Menschheit", übertrug das "Kurze Geschichte"-Schema sodann in "Homo Deus" auf die Zukunft und ist jetzt schon bei "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert" angekommen. So viel zur kurzen Geschichte eines publizistischen Phänomens. Sein neues Buch sei, schreibt Harari, "im Dialog mit dem Publikum entstanden", einem Publikum, das den Autor mit Fragen löchert wie: "Wofür steht der Aufstieg von Donald Trump? Wie sollen wir mit der seuchenartigen Ausbreitung von Fake News umgehen? Warum steckt die liberale Demokratie in der Krise? Ist Gott wieder da?"

Das sind Fragen, auf die Universalhistoriker nicht unbedingt eine Antwort wissen müssen. Ihr Geschäft wäre ja unter normalen Umständen die Vergangenheit. Aber Harari hat sich von der Historiografie abgekoppelt, ohne dass andere wissenschaftliche Methoden und Begriffe an ihre Stelle getreten wären. Der Autor erfüllt jetzt die dringlichere Funktion eines globalen Kummerkastens, sowohl für die gewöhnlichen Leser wie für die politische Elite, die sich in Davos und bei anderen Anlässen gerne mit ihm zeigt.

Der um Person und Werk entstandene Hype hat Harari diesmal anscheinend am Forschen gehindert. Die 21 Lektionen bestehen im Wesentlichen aus schon publizierten Aufsätzen und Interventionen der vergangenen Jahre. Sie drehen sich um Themen wie vegane Ernährung, Terrorismus, künstliche Intelligenz, Big Data, Post Truth oder den Sinn des Lebens in einer Welt ohne Arbeit. Seine Gedanken zu diesen Stichworten hat Harari nun zu 21 Lektionen umformatiert, in denen der Autor uns direkt in die Augen schaut wie bei einem TED-Talk ("Bitte nehmen Sie dieses Szenario nicht zu wörtlich", "Vergessen Sie für einen Augenblick, dass ..."). Was Harari zu sagen hat, ist weder durchweg falsch noch uninteressant, es ist aber nur selten neu. Die Menschheit stehe, meint Harari, vor zwei großen Herausforderungen: der technologischen (sie umfasst Bio- und Informationstechnologie) und der politischen (Zuwanderung, Religion, Nationalismus und anderes).

Konstatiert wird, nicht zum ersten Mal, die Ermüdung der "liberalen Erzählung". Da alle anderen Erzählungen aber noch viel unattraktiver seien, jedenfalls für Liberale, werde die Menschheit die liberale Erzählung nicht aufgeben. Sie müsse allerdings die neuen Technologien "in ein neues, sinnvolles Narrativ integrieren können". Biochemie und Algorithmen müssten unserer Freiheit keinen Abbruch tun, solange wir verstehen, dass künstliche Intelligenz (vorerst) kein künstliches Bewusstsein erzeugt. Die seit altersher beklagte Rechenhaftigkeit der technologischen Moderne kann Harari nicht schrecken. Wir sind immer schon hochtechnologisch gewesen, haben es vielleicht nur nicht gemerkt. Insofern lassen sich seine Szenarien eher als Beitrag zur Deeskalation lesen. Nicht erst von Fake News werden wir getäuscht; wir haben uns in der "liberalen Erzählung" schon länger über die Natur des Menschen getäuscht. Fruchtbare Enttäuschungen über uns selbst stehen also bevor, durch die wir das abendländische Subjekt (Harari selbst hält es eher mit dem Buddhismus) mit der neuesten Technologie werden befreunden müssen.

Auch im Blick auf die politischen Herausforderungen rät Harari eher zur Entspannung. Nationalismus, jedenfalls übersteigerter, sei immer ein Übel, Religionen, namentlich Staatsreligionen, ebenfalls. Zuwanderung sei keine Bringschuld der aufnehmenden Gesellschaften, sondern enthalte Verpflichtungen für beide Seiten. Der aktuell viel beschworene "Rassismus" sei eher ein Phänomen von gestern. Heute hätten wir es mit einem "Kulturalismus" zu tun, der neben vielen schädlichen auch vernünftige Aspekte enthalte. Terrorismus sei eine Geißel, Panik jedoch fehl am Platz. Man fühlt oft wenig Neigung, Harari zu widersprechen, vermag aber nicht zu erkennen, worin nun der Mindestabstand zum politischen Leitartikel besteht. Oft möchte man ihm auch zustimmen, etwa in seiner Betonung "säkularer Ideale". Mensch, werde säkular, so etwa heißt sein Appell. Die "doppelte Verpflichtung auf Wahrheit und Mitgefühl" müsse indessen niemanden hindern, seine religiösen Neigungen auszuleben. "Vollwertige Mitglieder der säkularen Welt" sind aber erst diejenigen, die sich "wissenschaftlicher Wahrheit, Barmherzigkeit, Gleichberechtigung und Freiheit" verschreiben. Das ist schön gesagt, nur fehlt bei Harari die theoretische Fundierung solcher Postulate. Der Philosoph John Rawls etwa war da mit seiner "Theorie der Gerechtigkeit" schon 1971 weiter. Zu Hararis Verteidigung könnte man sagen: Er ist ja auch nur Historiker. Dann sollte er sich aber besser nicht mit Fragen der normativen Ethik befassen.

Nach den zwei Kapiteln über die großen Herausforderungen der Gegenwart kommt Harari dann ins Plaudern. Sein Buch erliegt nun vollends dem Imperativ des TED-Talks, nämlich inspirational oder motivational zu sein, das heißt vor allem, dem Publikum bei der Erzeugung guter und eindeutiger Gefühle behilflich zu sein. Dabei hilft es, wenn die gestellten Fragen schwerwiegend sind.

"Resilienz" heißt das abschließende Kapitel, und es wird mit folgender Frage eingeleitet: "Wie sollen wir leben in einer Zeit der Verunsicherung, in der die alten Erzählungen weggebrochen sind und noch keine neue Erzählung entstanden ist, die sie ersetzen könnte?" 2050 wird es nämlich so sein, dass "ein Großteil von dem, was Kinder heute lernen, (...) vermutlich irrelevant sein wird". Schlimmer noch: "Um relevant zu bleiben - nicht nur ökonomisch, sondern vor allem gesellschaftlich -, wird man über die Fähigkeit nachdenken müssen, fortwährend zu lernen und sich selbst neu zu erfinden, zumindest in einem noch jungen Alter von 50 Jahren."

Wenn es so wäre, dass die alten Erzählungen kaputt und die neuen noch nicht gefunden sind, wir also in einer Situation sind, in der uns (oder im Harari-Ton: Ihnen, liebe Leser) die Orientierung abhanden gekommen ist und wir ohne Kompass durch die Meere der Desinformation schippern, dann hätte Harari etwas anzubieten: "Resilienz", auf Deutsch: Widerstandskraft. Harari rät zur Gelassenheit, dies aber erst, nachdem er uns vorher die Hölle heiß gemacht hat ("lebenslanges Lernen", "sich neu erfinden", "nutzloses Wissen"). Im Fegefeuer der Meditation darf man sich am Ende von den Zumutungen des 21. Jahrhunderts erholen. "Einfach nur wahrnehmen", ist Hararis finaler Rat. Nun warten wir auf seine 22 Lektionen für das 22. Jahrhundert.

Yuval Noah Harari : 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Andreas Wirtensohn. Verlag C. H. Beck, München 2018. 440 Seiten 24, 95 Euro

© SZ vom 08.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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