Gleich am Anfang dieses Debütromans stirbt ein Vater einen spektakulären Tod. Er, der vierhundert Kilo gewogen haben soll, war so schwer, dass die Wiese, auf der er zum Zeitpunkt seines Todes stand, "sich konkav ins Erdreich bog, so schwer, "mit ihm konnte man fast nichts machen, was mit einer Schwerkraft zu tun hatte", also nichts. Beim Versuch, sich des Walnussbaums im Garten zu entledigen, sägt sich ebendieser Vater in den Körper und verblutet. Die herbeigeeilte Tochter-Erzählerin fasst das Bild etwas apathisch so zusammen: "Blut, überall Blut, es sah aus wie in einem Menschenschlachthaus." Dann aber, so heißt es an anderer Stelle, könnte jener Vater auch im Schwimmbad ertrunken sein oder auch einfach nur verschwunden.
Zu den unzähligen Toden des Vaters kommen in Yade Yasemin Önders Roman "Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron" noch weitere Leuchtfeuer im Konjunktiv: die lebensbedrohliche Essstörung der etwa 30-jährigen Erzählerin und auch ein One-Night-Stand, der unaufgelöst zwischen konsensuellem Gewaltakt und Vergewaltigung flimmert. Schon eines dieser Elemente gäbe genug her für eine psychologische Tiefenbohrung. Zumal sich ja alles recht schön ineinanderfalten ließe. Ein schwergewichtiger Vater, dazu eine Tochter, der von Verwandten wenig subtil geraten wird, besser aufs Essen zu achten, während sie sich vollstopft, um sich dann auf der Toilette den Finger in den Hals zu stecken. Aber nein, dieser Roman ist keine Psychoanalyse-Couch-Geschichte, sondern ein eigensinniger Fundus an Assoziativprosa, etwas grotesk, vor allem aber durchgehend heiter und zugleich ein wenig morbide.
Damit die Nachbarn nichts mitkriegen, stellt sie Staubsauger und Radio an
Alle Geschehnisse in dieser Geschichte können so oder auch anders gewesen sein. Die Bulimie, so heißt es frei nach Susan Sontag im Klappentext, soll hier auch Metapher sein. Dazu mag gehören, dass die unzuverlässige Erzählerin mit ihren fabulierenden Mehrfachanläufen die Leserin in einen Zustand durchgehender Skepsis versetzt. So ist es eben mit der Essstörung, bei der nicht nur Freunde und Familie getäuscht werden. In erster Linie belügt die Betroffene sich selbst. Bulimie als Formprinzip heißt bei Önder auch, dass es eine starke Rhythmisierung des Textes gibt, Ruhe- und Aufregungsphasen, ähnlich denen der Nahrungsaufnahme und -abgabe. Die Aufregung: Prinzipien werden rigoros übertreten ("du kannst nichts mehr dagegen tun und fällst in den Teller rein") und Speisen großzügig zu Freunden erklärt ("Pute und Pommes, Twix und Nutella. Zusammen sind wir fünf"). Die Beruhigung: "das Schließen einer Tür und dann, dumpfer, ein Platschen, ein Stöhnen, die Spülung".
Erbricht sich die Erzählerin, nennt sie das "die sogenannten gegenregulatorischen Maßnahmen" ergreifen. Damit die Nachbarn nichts mitkriegen, stellt sie Staubsauger und Radio an, zu Beginn der Nahrungsaufnahme kommt erst das Gesunde, dann das Süße. So bleibt am Ende wenigstens die Salatgrundlage im Magen, wenn alles andere in der Toilette verschwunden ist. Die Verpackungen der Speisen müssen freilich gut im Müll versteckt, die Zunge und das Bad hinterher geputzt werden. Beschrieben ist diese Banalität der Bulimie im Idiom der Nüchternheit und der irritierenden Klarheit eines Beipackzettels: "Je nach Feuchtigkeitsanteil der zu verspeisenden Speise sollte abgewogen werden, wie viel Flüssigkeit zwischen dem Schlucken getrunken wird. Es empfiehlt sich, im Magen einen Brei herzustellen, der weder zu fest noch zu flüssig ist. Das Entledigen geschieht so auf die sanfteste Weise."
Yade Yasemin Önder, die bisher vor allem Drehbücher geschrieben hat, wurde 1985 geboren. Sie hat als Zeitzeugin erlebt, wie der weibliche Körper zum Diskussionsgegenstand wurde. Sie wüsste davon zu berichten, wie erst Kate Moss in den Neunzigern, dann Heidi Klum in den Nullerjahren das magere Schönheitsideal von jungen Frauen prägten und Anorexie zur Modekrankheit wurde. Oder davon, wie 2017 junge Aktivistinnen unter dem Hashtag "Me Too" der Öffentlichkeit die Scheuklappen wegtwitterten und das Recht auf den eigenen Körper weg von den Paragrafen in die Lebensrealität karrierebewusster Frauen trugen.
"Me Too" war eine politische Bewegung. Frauen berichteten von sexuellen Übergriffen und versuchten, sie in einen größeren Rahmen zu stellen, indem sie auch die Machtgefälle thematisierten, die Missbrauch begünstigen. Die Literatur liefert dazu einen anti-analytischen Beitrag. Sie erzählt davon, dass sich manches, und dazu mag der sexuelle Missbrauch oder, im anderen Fall, die kommentierende Aneignung des weiblichen Körpers gehören, zunächst vage anfühlen könne und erst später falsch.
Ein One-Night-Stand mit einem Unbekannten wird in acht Varianten erzählt
Den Startschuss zu dieser jüngeren Welle eines Erzählens, das toleranter ist gegenüber Mehrdeutigkeit, gab Kristen Roupenian mit ihrer 2017 im New Yorker veröffentlichten Kurzgeschichte "Cat Person" über einen unglücklichen, von einem Machtgefälle geprägten One-Night-Stand. Die Amerikanerin Roupenian wurde damit über Nacht und Dank Twitter & Co. zum Literaturstar, vielleicht, weil es längst überfällig war, dass auch von sexuellen Grauzonen erzählt wird. Auch Yade Yasemin Önder leuchtet diese Ambiguität weiblicher Erfahrung von Wehrlosigkeit und Selbstnormierung aus. Manchmal tut das beim Lesen zu weh. Zum Beispiel, als die Erzählerin gewollt-ungewollt mit einem sehr alten, sehr fremden Mann schläft: "Ich weine und eine Träne tropft auf den Penis und perlt ab".
Ein anderer One-Night-Stand mit einem Unbekannten wird in acht Varianten erzählt, knapp oder ausufernd, mechanisch oder prosaisch, mit vielen Ausrufezeichen oder wie in einem Polizeibericht, der über die Dauer des Aktes ("4 Minuten und 3 Sekunden") genauso unterrichtet wie darüber, dass "4 Milliliter Ejakulat" und also "102 Millionen Spermien" am Geschehen beteiligt waren. In jeder der Versionen stellt sich am Ende und also viel zu spät die Frage "So hast du das gewollt?" Das betreffende Kapitel trägt den Namen "Hymen als Hindernis". Er ist ein gutes Beispiel dafür, dass ziemlich vielen Formulierungen Önders etwas gelingt, was man vielleicht den Tocotronic-Zauber der Neunziger nennen könnte: Manches wirkt bemüht verrätselt, aber das stört einen überhaupt nicht, weil es so extrem fein ausgedacht und zusammengebaut ist. Dazu liegt über allem ein Hauch subkultureller Intensität.
Mit den Perspektivwechseln, den mehrfachen Erzählanläufen zur immergleichen Szene nähert sich Önder, die als Drehbuchautorin spürbar große Erfahrung mit atmosphärisch dichten Szenen hat, ihrem literarischen Vorbild, dem auch im Buch erwähnten französischen Schriftsteller Raymond Queneau an. Der hatte in seinen "Stilübungen" 1947 auf 99 verschiedene Arten die Geschichte einer ganz gewöhnlichen Begegnung zweier Männer in der Pariser Metro erzählt und damit den Beweis geführt, dass gute Literatur ihren Charakter nicht zwingend aus dem Inhalt bezieht. Was natürlich nicht gegen eine gute Story spricht.
Yade Yasemin Önder hat mit Teilen des Romans 2018 den für den literarischen Nachwuchs wichtigen Open-Mike-Wettbewerb gewonnen. Damals hieß ihre Geschichte "Bulimieminiaturen" und glücklicherweise ist auf dem Weg zum Roman das Miniaturenhafte nicht verloren gegangen. "Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron" ist ein formal herausforderndes, angenehm verstiegenes Buch mit lauter schweren Zeichen, wie Bulimie, Gewalt, und überhaupt, dem ganzen furchtbaren Prozess des Reinwachsens in die ewig unerreichbare Schönheitsnorm. Man möchte es all jenen als Gegenbeweis verordnen, die meinen, die junge Gegenwartsliteratur sei müde in der Form und erschöpft im Inhalt.