"X" im Kino:Das wilde Herz

"X" im Kino: Trägt den ganzen Film: Mia Goth als Pornosternchen Maxine.

Trägt den ganzen Film: Mia Goth als Pornosternchen Maxine.

(Foto: Christopher Moss/Capelight Pictures)

Wenn ein Pornodreh außer Kontrolle gerät: Ti West zerlegt mit "X" das Horrorfilm-Genre, nur um es dann umso fieser wieder auferstehen zu lassen. Mit einer sagenhaft guten Hauptdarstellerin.

Von Nicolas Freund

Von oben sieht sie beim Schwimmen aus wie ein X. Das ganze Bild ist grün, bis auf die junge Maxine, die sich langsam auf den Steg am linken Bildrand zubewegt. Nur: Maxine ist nicht alleine in diesem Grün. Mit geduldigen Schlangenbewegungen kommt von rechts ein schuppiges Ding immer näher und näher. Etwa beim Steg müsste es das kleine X eingeholt haben. Achtung, Spoiler: Dazu kommt es aber nicht. Sekunden, bevor das Krokodil sie zerfleischen kann, stemmt sich die nackte Maxine aus dem sumpfigen Weiher auf den Steg, ohne das Raubtier in ihrem Rücken auch nur zu bemerken.

Obwohl nichts passiert, ist diese Szene eine der spannendsten in dem Horrorfilm "X", und sie bringt auf den Punkt, was Regisseur Ti West hier mit seinem Publikum anstellt. Schon die Kamera, die hoch über dem sumpfigen Weiher fliegt, in den Maxine erst einen blau lackierten Zeh gehalten hat, bevor sie dann ganz abgetaucht ist, unterläuft die Szene eigentlich. Der Zuschauer erwartet die strampelnden Beine der Frau oder ihren gehetzten Blick gezeigt zu bekommen. Die Szene verspricht Gewalt, ein Raubtier, das die junge Frau in die Tiefe reißt. Seit "Der weiße Hai" ist das eine Urszene des Horrorfilms mit deutlich erotischen Untertönen. West löst diese Spannung dann aber nur mit dem nackten Körper seiner Hauptdarstellerin, ohne den Umweg der Gewalt und entlarvt damit den Blick der Zuschauer, denen es in diesen Szenen nicht nur um die Spannung, sondern immer auch um die nackte junge Frau geht. Ein fieses Spiel mit den Konventionen des Horrorfilms und den Erwartungen der Kinobesucher.

"X" im Kino: Die Filmcrew ahnt noch nicht, was auf der abgelegenen Farm in Texas passieren wird.

Die Filmcrew ahnt noch nicht, was auf der abgelegenen Farm in Texas passieren wird.

(Foto: Christopher Moss/Capelight Pictures)

Durchkreuzte Erwartungen, steht dafür das geheimnisvolle X im Titel? Vielleicht. Es steht aber auch für die Hauptdarstellerin Maxine, gespielt von Mia Goth, die "den X-Faktor" hat. Findet zumindest ihr Verlobter, der Filmproduzent Wayne, der etwa doppelt so alt ist und sie als eine der Hauptrollen in dem Porno besetzt, den er auf einer abgelegenen Farm in Texas drehen möchte. Es ist 1979, und im Filmbusiness scheint alles möglich zu sein.

Der Horrorfilm als Operation am offenen Herzen

X steht nämlich auch für X-Rated. So wurden früher im amerikanischen Kino Filme bezeichnet, die wegen extremer Darstellungen von Sex oder Gewalt keine Jugendfreigabe bekommen hatten. Und weil das X ja auch eine Kreuzung ist, muss sich West gedacht haben: Sex oder Gewalt? Ach, warum nicht beides. Und gleich noch eine Metaebene dazu. Denn ähnlich wie "The Cabin in the Woods", nur etwas subtiler, legt er die Mechanismen seines eigenen Films offen, kommentiert ihn mit doppeldeutigen Dialogen, zitiert ironisch die großen Vorbilder und unterläuft mit Jump-Cuts wie im französischen Arthouse-Kino der Nouvelle Vague die Genre-Konventionen des Horrorfilms. Denn er weiß, das Kino ist eine Wunschmaschine, ein Ort, an dem Träume wahr werden oder zumindest fas,t und mit diesen Wünschen seiner Zuschauer und Figuren spielt er. Der Horrorfilm als Operation am offenen Herzen.

Besagter Porno soll nämlich die Wünsche aller Beteiligten wahr werden lassen: Wayne träumt vom großen Geld, das Studentenpärchen hinter der Kamera von der großen Kunst, das Darstellerpärchen vor der Kamera vom Vögeln, und Maxine trägt eine unstillbare Sehnsucht im Herzen, endlich berühmt zu werden, "so wie alle coolen Leute". Zumindest für ihre Darstellerin Mia Goth könnte das wahr werden. Maxine ist dank ihr eine der emotional komplexesten Figuren, die es bisher in einem Horrorfilm zu sehen gab. Dazu spielt Goth in "X" auch noch eine fast absurde Doppelrolle, über die an dieser Stelle aber nichts verraten werden soll. Nur so viel: Es ist ein wildes Herz, wie es Maxine in der Brust trägt, in dem Liebe und Gewalt zwei Seiten derselben Sache sein können, auf das der Horror immer abzielt - und das Mia Goth hier kräftig zum Schlagen bringt.

X, USA, Neuseeland 2022 - Regie und Buch: Ti West. Kamera: Eliot Rockett. Mit: Mia Goth, Jenna Ortega, Martin Henderson. Capelight, 106 Minuten. Kinostart: 19. Mai 2022.

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