Wozu noch Zeitungen?:Retter des Raschelwaldes

Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern - aber die Print-Branche wird auch morgen noch dringend benötigt. Das glauben zumindest diese drei Preisträger.

Die Akademie für Publizistik hat Journalisten dazu aufgerufen, sich Gedanken zu essentiellen Fragen ihres Berufes zu machen. "Die Antworten sollen Erkenntnisse fördern, Widerspruch erregen, in jedem Fall bedenkenswert sein und nachdenklich oder auch heiter stimmen." So Annette Hillebrand, Direktorin der Akademie. Der Wettbewerb ist mit einem Preisgeld von 3.500 Euro dotiert. In der Preisfragen-Jury sitzenJournalisten aus Print, Radio, Fernsehen und Internet. Hier die Gewinner der "Preisfrage 2008: Wozu noch Zeitungen?":

Mann beim Zeitung lesen

Wozu noch Zeitungen? Die Akademie für Publizistik hat Antworten auf diese Frage gesucht - und gefunden.

(Foto: Foto: dpa)

1. Preis: Blatt für Blatt ein Badespaß

Wenn sie die Zeitungsseiten zu Boden fallen ließ, wusste ich, dass sie glücklich war. In einer halben Stunde, vielleicht in einer Stunde erst, würde sie entspannt und etwas müde aus dem Bad steigen. Dann würde die Tageszeitung Seite für Seite über den nassen Boden verstreut sein, wie wenn unser Haus nie Wände gehabt und der Wind alles auseinander geblasen hätte. Die Seiten wurden beim Lesen nass, sie änderten ihre Erscheinung, wurden dunkel und rochen muffig. Manchmal waren sie nass von ihren feuchten Händen, manchmal sogen sie sich von unten her mit Wasser voll, wenn eine Ecke beim Lesen das Badewasser berührte.

Zur Zeitung kam ein Dampfkochtopf hinzu, den sie zu ihren Füssen im Wasser versenkte, damit sie in der vollen Wanne nicht unter Wasser rutschte, während sie las. Bis der Topf richtig stand, wurde er gedreht und gewendet, als sei er ein Hündchen, das sich zum Schlafen legte. Erst später verstand ich, dass nicht alle Mütter so baden.

Schützende Zeitungskreise

Ohne Wasser, vom Sofa aus und aus dem Bett, legte meine Mutter einen Kreis von Zeitungsseiten um sich. Unordentlich verstreut, so weit sie eben flogen auf ihrem kurzen Weg aus ihrer Hand bis auf den Boden. Diese Zeitungskreise waren ein Zeichen von Friede und Ruhe. Ein weisser Kreis, den es nicht zu durchbrechen galt, der meine Mutter schützend umgab. Der Krieg war vorbei. Alles wurde still, nur manchmal fiel eine Seite leise raschelnd zu Boden.

Der Abwasch konnte warten, der Mann hatte gegessen und war wieder auf dem Weg zur Arbeit, der Rest des Tages mit seinen Beschäftigungen wartete, die Kinder waren in der Schule oder den ganzen Morgen herumgetobt und jetzt, am frühen Nachmittag, satt und munter. Dann stahl sie sich hinter die Zeitung. Was sie darin las, sagte sie uns nie. Manchmal bat ich sie, mir vor dem Schlafen eine Meldung aus der Zeitung vorzulesen, doch sie tat es nicht.

Sie las uns Geschichten aus Büchern vor oder sang leise ein Lied, bei offenem Fenster. Es schien, als wäre die Zeitung nur für sie da und nur, wenn es ihr gut ging. Sie stellte sie zwischen uns und sich auf wie eine dünne weisse Wand, oder sie legte sie um sich herum wie eine Koppel, in der ein Pferd seine Freiheit in Gefangenschaft geniesst.

Wenn sie müde war, vielleicht am Abend zuvor eine Einladung bestritten hatte oder mit meinem Vater das von ihm geliebte und von ihr gehasste Kino besucht hatte, meinte sie am nächsten Tag bloss noch: Macht was ihr wollt, ihr könnt mir ebenso gut gestohlen werden. Dann wussten wir, sie war zu müde zum Lesen. Dann zogen sich die Minuten hin, dann lockte uns die Sonne nach draussen aber wir wollten noch dieses und jenes von der Mutter. Sie schien jeden Augenblick vom Sofa zu fallen, ihr Gesicht eine Maske.

Meiner Mutter wegen

Erst als ich mit dem dritten Kind schwanger ging und wir in ein grösseres Haus mit grösserer Badewanne zogen, lernte ich selber mit Dampfkochtopf zu baden und ich begann, Seite um Seite zu lesen und dann Blatt für Blatt beiseite zu legen.

Heute lese ich immer Zeitung, wenn mein Jüngster im Bad ist. Ich vermisse meine Mutter. Ich vermisse die nasse Zeitung auf dem Boden. Ich selber lasse sie nicht fallen. Wenn sie von den Spritzern meines Sohnes nass wird, atme ich den Geruch des feuchten Papiers ein und versinke in meiner Kindheit. Dann steigt er aus dem Bad und ich wickle ihn in mein Badetuch, schicke ihn unter meine Bettdecke, bis seine Haare trocken sind. Die Zeitung falte ich zusammen, mit den feuchten Seiten nach innen, lege sie zum Altpapier, bündle sie später, trage sie hinaus, zur richtigen Zeit, am richtigen Tag, lege sie an der immer selben Stelle auf die Strasse, hoffe, dass es nicht regnet in der Nacht.

Wenn mein Jüngster und ich den Bus besteigen, trägt er eine Gratiszeitung unter dem Arm, die beim Bushäuschen ausliegt: dreijährig, aber genau so gross wie seine Brüder. Im Bus liest er Werbung und Wetter vor, langsam mit dem Finger über die Zeilen gleitend, liest, was nie jemand schrieb und nur ich manchmal verstehe. Vom Krokodil, das fliegt und der Röhre, in der er stecken blieb, zum Glück war es ein Traum.

Einmal kommt er mit einem Dinosaurierknochen nach Hause, den er im Wald ausgegraben hat. Sein Bruder meint, es sei bloss ein Stein. Sein Vater ist begeistert. Ich wundere mich, dass er sich für Ausgrabungen interessiert. Am Nachmittag liege ich in der Sonne und lese in der Zeitung, in China sei ein bisher unbekannter kleiner Dinosaurier gefunden worden. Daneben ein Bild mit weissen Knochen. Kein Wunder, also.

Würde mich heute jemand fragen, wozu noch Zeitungen, würde ich antworten: Meiner Mutter wegen.

Lesen Sie auf Seite 2, 100 Gründe, warum wir Zeitungen brauchen.

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2. Platz: Von Ansporn bis Zusammenknüllen

Zeitungen sind wie Luft. Wir brauchen sie so sehr, dass die provozierende Frage "Wozu?" uns gleich nach jener schnappen lässt. Wir sind mit der Zeitung verwachsen wie mit unserem rechten Arm. Deshalb hier die wichtigsten hundert der mindestens tausend Gründe - alphabetisch geordnet:

Als abschreckendes Beispiel, als Ansporn, richtige Literatur zu lesen, als Beginn eigenen Denkens, als Beweis, als Einlage im Komposteimer, als Entwurfspapier für Schnittmuster, als Fächer, als Fenster zur Welt, als flüchtiger Eindruck, als Gegenbeweis, als Hoffnungsschimmer, als Konzentrationsübung, als Lineal, Als Not-Klopapier, als provisorischen Regenschirm, als Rohmaterial für Papiermaschee, als Unterlage beim Anstreichen, als Zeitdokument, als Zeugnis für den Niedergang der Moral, aus Gewohnheit, für Collagen, für das Allgemeine, für das Besondere, im Abo als Weihnachtsgeschenk, um das schwere Kleingeld loszuwerden, um zu wissen, welcher Tag heute ist, wegen bärtiger Chefredakteure, wegen der Bilder, wegen der Börsenkurse, wegen der Denkfehler, wegen der Fremdwörter, wegen der Karikaturen, wegen der Kinoanzeigen, wegen der Meinungsmache, wegen der Nachbarn, wegen der Praktikantentexte, wegen der Promigerüchte, wegen de r Rechtschreibfehler, wegen der Richtigstellungen, wegen der Todesanzeigen, wegen der Unfälle, wegen der Weltpolitik, wegen der Werbung, wegen des Fernsehprogramms, wegen des Kreuzworträtsels, wegen es Layouts, wegen des Umweltpapiers, wegen des Zustellers,wegen Familienthemen, wegen gut recherchierter Hintergrundberichte, wegen hilfloser Wortschöpfungen, wegen nicht stichhaltiger Argumente, wegen schiefer Vergleiche, wegen schlecht übersetzter Agenturmeldungen, weil Journalisten viel schreiben, wenn der Tag lang ist, zum Angeben, zum Archivieren, zum Ärgern, zum Aufregen, zum Ausstopfen von nassen Wanderschuhen, zum Besserwissen, zum Blumeneinwickeln, zum Buchstabenausschneiden, zum Dachbodenisolieren, zum Draufsitzen, zum Einpacken von Gläsern, zum Erwerb stabiler Vorurteile, zum Fensterputzen, zum Feuermachen, zum Fliegen Totschlagen, zum gemütlich Frühstücken, zum Hände über dem Kopf Zusammenschagen, zum Hassen, zum Hütefalten, zum Kaffee, zum Kopfschütteln, zum Lachen, zum Leserbriefschreiben, zum Lieben, zum Löcher Hineinschneiden und Durchgucken, zum Mitredenkönnen , zum nicht zuhören müssen, zum Papierflugzeugfalten, zum Prüfen der Sehschärfe, zum Rascheln, zum Schattenspenden, zum Schlagzeilen Blödfinden, zum sich Ausbreiten, zum sich dahinter Verstecken, zum Stabilisieren wackliger Tische, zum Stapeln, zum Übermalen, zum verkehrt herum Halten, zum Wartezeit Überbrücken, zum Weinen, zum Zusammenknüllen, zum Zusammenrollen, zur Beruhigung.

Lesen Sie auf Seite 3, was Nostalgiker an der Zeitung schätzen.

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3. Platz: Ist doch klar

Die Nostalgiker! Sie sagen, sie müssten das Papier rascheln hören, die Seiten zwischen ihren Fingern spüren, die Druckerschwärze riechen können. Sie gebrauchen Wörter wie "haptisch" und "sinnlich erfahrbar"und freuen sich, wenn ihre Fingerkuppen dunkel werden.

Nostalgiker sitzen gerne im Café, breiten ihre Zeitung genüsslich vor sich aus und schlürfen dabei Milchkaffee, der die Gehirnzellen so wohlig kribbeln lässt. Zeitungen und Kaffee, das passt zusammen. Sind aus den Londoner Kaffeehäusern des 18. Jahrhunderts nicht Versicherungsunternehmen, Börsen und, ja natürlich, auch Zeitungshäuser entstanden, wurde in Pariser Cafés nicht die Revolution geschmiedet? Kaffeehäuser waren öffentliche Orte, Orte der Debatte, der Geselligkeit, des Austauschs von Neuigkeiten - und Zeitungen waren, Zeitungen sind gedruckte Cafés. Nostalgiker lieben so etwas.

Aber: Nur für Nostalgiker wird kein Verleger Zeitungsredaktionen finanzieren. Es muss mehr Gründe geben, warum Zeitungen unverzichtbar sind - auch gut 400 Jahre nachdem ein Straßburger Drucker namens Johann Carolus mit seinem Blättchen die Geburtsstunde der Zeitung läutete.

Wundertüte Internet

Bröckeln nicht die Leserzahlen, hat nicht ein amerikanischer Wissenschaftler ausgerechnet, dass es im Jahr 2043 in den USA keinen einzigen Zeitungsleser mehr geben wird, wenn sich der Auflagenschwund fortsetzt? Das Internet ist doch viel schneller, kommunikativer, bunter, beweglicher, eine Wundertüte!

Beispiel Immobilienanzeigen: Wer möchte dröge Texte voller Abkürzungen lesen, wenn er im Internet eine Wohnung finden kann, mit Fotos, Grundriss, direkter Kontaktaufnahme zum Makler und Finanzierungsrechner? Auf die Frage "Wozu noch Immobilienanzeigen in der Zeitung?" gibt es keine überzeugende Antwort. Gibt es eine auf die Frage: Wozu noch Zeitungen?

Lassen wir die Nostalgiker im Café oder Coffee Shop sitzen, mit ihren schwarzen Fingerkuppen und einem Tupfer Milchschaum auf der Zunge. Begeben wir uns auf einen Empfang, dorthin, wo moderne Menschen nützliche Netze knüpfen. Sie lese keine Zeitungen mehr, sagt die Event-Managerin: Morgens gucke sie ins Internet, klicke sich durch die Online-Ausgaben, da sei sie schneller und umfassender informiert als mit einem einzigen Frühstücks-Blatt vor der Nase. Der Pragmatiker schätzt an Zeitungen immerhin, dass man mit ihnen nasse Schuhe ausstopfen kann.

Ein Publizistik-Professor wirft ein: Noch nie habe ein neues Medium ein altes komplett verdrängt! Die Psychologin erwähnt eine Studie, der zufolge Gelesenes besser behalten wird, wenn es von Papier aufgenommen wird statt vom Bildschirm. Erstauntes Raunen.

Auch ein Tageszeitungsredakteur ist in der Runde, etwas ausgelaugt wirkt er, aber mit einem verschwörerischen Flackern in den Augen klärt er die anderen auf: Online-Journalisten seien oft schlecht ausgebildet, schon aufgrund des Dauerbetriebs in Online-Medien mache da jeder alles, entsprechend unseriös sei das Ergebnis. Und was den so genannten Bürgerjournalismus betreffe: Wer wolle schon ernsthaft lesen, was irgendein selbsternannter Schreiberling ohne jeden Qualitätsausweis und ohne Gegenleser in die Tasten gehauen hat?

O ja, pflichten einige Umstehende bei: die seriöse Recherche und Nachrichtenselektion! Die Hintergrundberichte! Die Presse als vierte Gewalt im Staate, als Hüterin der Meinungsfreiheit, der Demokratie!

Lesen Sie auf Seite 4 ein Loblied auf die Zeitung.

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Die Tür gleitet ins Schloss, während die Gäste weiter diskutieren. Draußen ist es nass, ein Zeitungsverkäufer steht frierend an der Ecke. Ich kaufe ihm keine Zeitung ab. Wozu auch? Morgen wird das Blatt, aktualisiert und mit weniger Rechtschreibfehlern, vor meiner Wohnungstür liegen. Ich habe keine Eile mit der Information. Lieber singe ich auf dem Heimweg meinen eigenen kleinen Lobgesang auf die Zeitung schlechthin.

Zeitungen, trällere ich die erste Strophe in die Nacht, sind nur scheinbar altmodisch. In Wirklichkeit vereinen sie eine Vielzahl von Vorzügen, die sie gerade für den modernen, ungeduldigen, medienerfahrenen Menschen zu einer idealen Quelle von Information und Unterhaltung machen. Denn: Kein anderes Medium erlaubt es, sich so schnell und selbstbestimmt einen Überblick über das Tagesgeschehen zu verschaffen, dabei ganz nach Belieben Themen nur zu überfliegen oder aber genauer zu studieren; auch aus Gebieten, die einen nur schwach interessieren, vieles mitzukriegen, ohne dass man klicken oder eine Sendung zu Ende hören müsste.

Wann und wo es passt

Eine erstaunliche Anzahl von Bits und Bytes bahnt sich den Weg in den Kopf beim Durchblättern einer Zeitung. Zeitungen waren immer schon mobil, man liest sie, wann und wo es gerade passt, und kann die Lektüre jederzeit unterbrechen: Zeitungsleser sind frei und unabhängig!

Zeitungen, so beginnt meine zweite Strophe, sind übersichtlich und überraschend. Der Leser weiß, was er wo zu erwarten hat - und stößt plötzlich auf ein langes Seite-Drei-Stück über den letzten auf Schreibmaschinen spezialisierten Laden in Berlin.

Danach hätte er im Internet niemals gesucht, auch nicht Radio oder Fernsehen dafür angeschaltet. Aber jetzt nimmt er sich vielleicht die Zeit und genießt den süffigen Stil des Autors, der Autorin. Überhaupt, Sprache: Gute Zeitungen pflegen unterschiedliche Stile, Formen und damit Blicke auf die Welt. Zeitungsleser sind sprachverwöhnt!

Zeitungen halten zusammen

Und, dritte Strophe: Zeitungen bilden Gemeinschaften, über die Grenzen der Generationen und special interest groups hinweg. Sie bieten Anknüpfungspunkte, geistige Heimat, Gesprächsstoff für alle - gerade weil sie in ihrem Umfang begrenzt sind und man nicht endlos weiterklicken, -hören, schauen kann. Zeitungen halten Familien zusammen: Jeder kriegt einen Teil, der Kleinste die Kinderseite. Zeitungen sind wie Lebenspartner: Hat man sich für eine entschieden, gewöhnt man sich an sie mit allen ihren Macken.

Eine konsequent nicht-monogame Beziehung: Selbstverständlich holt sich der Zeitungsleser seine Bilder aus dem Fernsehen, hört im Auto Radio, sucht im Internet nach speziellen oder brandaktuellen Infos, selbstverständlich müssen die Zeitungsmacher sich der neuen Medienwelt anpassen, interaktiver, einladender, auch: demütiger werden. Aber: Gäbe es nur die anderen Medien, dann müsste die Zeitung dringend erfunden werden! Das ist meine Schlussnote.

Durch die Glasscheibe eines Cafés erkenne ich einen meiner nostalgischen Bekannten, den Kopf über die Zeitung gebeugt. Ich klopfe an die Scheibe, er blickt mich an, mit Augen, in denen noch ein Text hängt, leicht benommen und doch konzentriert, irgendwie glücklich. Wozu noch Zeitungen?, ist mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen, und der allerletzte: ist doch klar.

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