Süddeutsche Zeitung

Woodstock 1994:Kommerz? Na klar, Kommerz!

  • 1994 fand in Saugerties, New York, die erste Neuauflage des Woodstock-Festivals statt.
  • Anlass war das 25. Jubiläum, im Gegensatz zum Ur-Woodstock ging es aber wesentlich kommerzieller zu.
  • Persönliche Erinnerungen an Tage zwischen Schlamm, Südstaaten-Rednecks und stimmgewaltigen Aufritten.

Von Kurt Kister

Es war ein Wochenende im August 1994 und es regnete. Eigentlich hätte es nicht regnen sollen, denn so um den 14. August herum ist sogar im Staat New York Sommer. Aber was heißt das schon: Sommer? Mitte August 1969 war schließlich auch Sommer, und wer alt genug ist, die Woodstock-Dreifach-LP mehr als drei Mal angehört und/oder den Film mindestens zweimal gesehen zu haben, der kennt den Rain Chant.

Im Ur-Woodstock auf Max Yasgurs Land hat es gestürmt und geregnet, obwohl die Kids der Woodstock-Nation "NO RAIN, NO RAIN" skandierten. Wann macht der Himmel schon mal das, was die Massen wollen? Und außerdem war es gut, dass es regnete, denn der Schlamm von Woodstock gehört zum Mythos Woodstock so wie Jimi Hendrix und der Satz "it's a free concert from now on".

Das 25-Jahre-Woodstock-Jubiläumskonzert war erst mal kein free concert. Es kostete 135 Dollar Eintritt für drei Tage (damals rund 220 Mark). Das Festival-Gelände bei Saugerties/NY war irgendwie in der Nähe von Bethel/NY, wo 25 Jahre zuvor das echte Woodstock-Festival stattgefunden hatte. Irgendwie in der Nähe heißt: 86 Meilen von Yasgurs Farm entfernt. Yasgur ("I'm a farmer") übrigens überlebte Woodstock nicht lange, er starb schon 1973. Anders war es mit Michael Lang. Der organisierte schon 1969 das Festival und tat dies zum Teil mit Geld von Investoren, also "der" Wall Street, was damals neu und unerhört war. 1994 war Lang dann wieder Veranstalter: von Woodstock II. Er wollte auch Woodstook IV organisieren, aber das klappte nicht mehr.

Woodstock II war besser organisiert als Woodstock I, vielleicht auch weil man 1994 mit 135 Dollar Eintritt pro Besucher mehr anfangen konnte als 1969 mit 18 Dollar pro Kopf. In Saugerties jedenfalls hatten sie neun Meilen Maschendraht um das Festival-Gelände gezogen, es gab Metalldetektoren, Tausende Ordner, und man durfte vieles nicht mitbringen: keine Waffen, keine Drogen, keinen Alkohol, kein Essen etc. War man erst mal drinnen, konnte man seine guten Dollars gegen Woodstock-Aluchips eintauschen, die eigentlich so etwas wie frühe Bitcoins für das Festival sein sollten. Die Verkäufer von Essen, Trinken, Klamotten und anderem Zeug nahmen allerdings auch Dollars. Die Pizza kostete elf Dollar, und das spezielle Festival-Kondom mit der Aufschrift "ich komme in Frieden" war für vier Dollar zu haben. Kommerz? Na klar, Kommerz!

Aerosmith und Metallica spielten. Aber Janis Joplin war natürlich eine andere Nummer.

1969 wurde der große Reibach allerdings erst hinterher gemacht, mit Platten, dem Film, Lizenzen für die verschiedensten Dinge. Der Mythos machte sich besser bezahlt als die Reprise des Mythos. Allerdings war Woodstock II alles andere als ein Verlustgeschäft. Man verdiente ordentlich während des Festivals, und hinterher auch nicht schlecht. Dies führte dazu, dass es im Juli 1999 (30 Jahre!) Woodstock III gab, ebenfalls im Staate New York, bei einem Ort namens Rome. Da kamen zwar auch mehr als 200 000 Leute und viele Bands von Kid Rock über Wyclef Jean bis hin zu Willie Nelson. In Erinnerung allerdings blieb Rome, weil es brannte - gegen Ende des Festivals legten Randalierer Feuer, es gab wüste Schlägereien und Chaos.

Bei Woodstock II in Saugerties ging es am letzten Tag, dem Sonntag, auch etwas chaotisch zu, weil es am Samstag lange geregnet hatte und auf dem Gelände aqua alta sowie bad bad mud dominierten. Von morgens an versuchten die Besucher, den großen Busparkplatz zu erreichen, von dem aus die Busse zu den zum Teil 50 Meilen entfernten Großparkplätzen für die Autos fuhren. Das war mühsam, weil die Straßen verstopft waren und sich ein kilometerlanger Heerwurm müder Gestalten vom Festival wegbewegte, während gleichzeitig noch neue Leute kamen, die vielleicht ausnutzen wollten, dass man am Schlammsonntag keinen Eintritt mehr bezahlen musste. It was a free concert from then on. Aber irgendwie erinnerte die Woodstock Nation von 1994, als sie sich sonntäglich unter Zurücklassung erheblicher Müllberge fort vom Ort wälzte, eher an Napoleons geschlagene Russland-Armee.

Und die Musik? Doch, Saugerties hat sich in dieser Hinsicht gelohnt. Zwar weilten 1994 etliche der Stars von 1969 nicht mehr unter den Lebenden - zum Beispiel Janis Joplin und der heilige Hendrix. Janis Joplin hatte ihren legendären Nachtauftritt am Samstag, 16. August 1969. 25 Jahre später spielten am Samstag, 13. August 1994, unter anderen Aerosmith und Metallica. Nichts gegen Metallica, aber Janis Joplin war schon eine andere Nummer. The Times They Are A Changin', sang Bob Dylan in Saugerties. Beim Ur-Woodstock war Dylan nicht dabei, obwohl er nicht weit von Bethel wohnte.

Die Liste der Bands bei Woodstock II war schon sehr beeindruckend. Das reichte von alten Meistern wie Joe Cocker, Crosby, Stills & Nash, Santana oder den Allman Brothers über The Band, Melissa Etheridge und Country Joe McDonald bis hin zu damals aktuellen Krachmaxen wie der Rollins Band, Nine Inch Nails oder Jackyl, deren Frontmann ostentativ auf der Bühne kiffte, einen Stuhl anzündete und den dann mit einer Kettensäge zerlegte. Von unten sah das einerseits lustig aus. Andererseits tobte trotz No Alcohol das überwiegend betrunkene Publikum, zu dem bei Jackyl jede Menge Südstaaten-Rednecks zählten. Als Einzelmenschen waren die freundlich, als Menge eher bedrohlich.

Henry Rollins schrie seine Texte mit letzter Kraft über die Menge. Wer es nicht mochte, konnte es immerhin originell finden. So waren die Neunziger.

Man sah anrührende Auftritte wie den der irischen Cranberries mit Dolores O'Riordan, einer grandiosen Sängerin, die 2018 starb. Die Cranberries waren kurz vor der Veröffentlichung ihres besten Albums "No need to Argue" auf dem Festival, und wer sie damals hörte, wird sich bis heute an "Zombie" erinnern, den Song, den man damals noch nicht kannte und von dem man fast sicher war, dass er ein Welthit werden würde. Wurde er dann auch. Oder Henry Rollins. Der spielte am Samstag, als es schon geregnet hatte. Vor der großen Bühne wälzten sich jede Menge halb nackte junge Menschen, zumeist Männer, im Schlamm; auf der Bühne veranstaltete die hemdlose Rollins-Band ein wüstes Spektakel. Rollins, damals 33, war schwer tätowiert, was auch von seiner Vergangenheit bei der LA-Punkband Black Flag herrührte. Die sehr lauten Geräusche der Rollins-Band changierten irgendwo zwischen Punk und Nu Metal. Weil Rollins möglicherweise ein Dichter ist, schrie er seine Texte mit letztem Einsatz über die Schlammmenge. Wer es nicht mochte, konnte es immerhin originell finden. So waren die Neunziger.

Woodstock II war nicht nur eine Mythen-Reprise, sondern durchaus ein Festival aus eigenem Recht. Anders als 1969 ging es allerdings nicht um Gegenkultur und eine andere, neue, buntere Welt. Es war das Woodstock der Generation X, deren Angehörige heute auf die fünfzig zusteuern, und somit an die 20 Jahre älter sind als jene, denen die 68er, die Woodstock Generation, nicht mehr trauen wollte. In dem Song "Beginnings" von Chicago aus dem Jahre 1969 heißt es: Time passes much too quickly, when we're together laughing. Ja, die Zeit vergeht, und selbst Woodstock II ist jetzt ein Vierteljahrhundert her.

Chicago übrigens hätten fast in Woodstock 1969 gespielt. Ihr damaliger Bandmanager allerdings zog einen Auftritt in San Francisco zur selben Zeit vor, und Santana übernahmen den eigentlich vorgesehen Gig auf dem berühmtesten Festival aller Zeiten. Pech gehabt. In Saugerties verabschiedete sich Joe Cocker, Woodstock-Veteran und Wiedergänger bei Woodstock II, mit dem Satz: "Wir sehen uns 2019!".

Ach ja, Joe Cocker starb 2014. Niemand sang "With A Little Help From My Friends" so herrlich berauscht und guttural, wie er das 1969 in Woodstock tat. Und selbst in Saugerties klang dieser Song aus seinem Mund immer noch großartig.

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SZ vom 14.08.2019/quli
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