"Wolfsbrüder" im Kino:Mensch im Schafspelz

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Und wenn das Leben in der Wildnis doch das bessere ist? In Gerardo Olivares' "Wolfsbrüder" lebt ein junger Mann zwölf Jahre allein unter Wölfen in der spanischen Sierra. Die wahren Barbaren in diesem Film sind aber die Vertreter der Zivilisation.

Rainer Gansera

Spuren lesen, Hasen aus ihrem Tunnelsystem hervorjagen, töten und enthäuten, Bienenwaben plündern und auch das Frettchen die Süße des Honigs kosten lassen: Fasziniert verfolgen wir, wie Marcos (Manuel Camacho) das Leben in der Wildnis meistert, wie er gegen Hunger, Einsamkeit und Kälte ankämpft, nach Kräutern sucht, Rebhuhnfallen aufstellt, und das Feuer in der Höhle hütet wie ein Heiligtum. Er hat sich mit einem jungen Wolf angefreundet, tauscht mit ihm Beutestücke: Hase gegen Rehfleisch. Der achtjährige Junge praktiziert, ganz auf sich gestellt, ein Leben wie in vorzivilisatorischen Zeiten und bewegt sich darin wie ein Fisch im Wasser.

Marcos (Juan José Ballesta) und ein Wolf in der Sierra. (Foto: Polyband)

Irgendwo in unserm Innern muss es eine Resonanzkammer geben, die bereitwillig auf den Anruf der Wildnis antwortet. Jedenfalls schwingen wir uns rasch in dieses Jäger-und-Sammler-Leben ein, das Marcos im "Tal der Stille", einer abgeschiedenen Region der Sierra Morena, führt - und wenn zum Finale die Repräsentanten der Zivilisation hoch zu Ross auftreten, erscheinen sie wie barbarische Eindringlinge, Sendboten der Empfindungsstumpfheit und Unfreiheit.

Als Truffaut in "Der Wolfsjunge" ("L'Enfant Sauvage", 1970) vom Findelkind aus dem Wald bei Aveyron erzählte, wollte er eigentlich den pädagogischen Bemühungen des Dr. Itard (den er selbst verkörperte) ein Denkmal setzt. Verblüfft musste er feststellen, dass das Kinopublikum - vor allem die Zuschauer in Skandinavien und Deutschland - das Schicksal des kleinen Victor, der 1789 als Dreijähriger im Wald ausgesetzt wurde, ganz anders sahen: als Loblied auf eine Wildnis, die Rettung und Freiheit symbolisiert. Wildnis als antizivilisatorischer Sehnsuchtsort.

Die Geschichte, die "Wolfsbrüder" mit spektakulären Naturaufnahmen erzählt, klingt zuerst nach Legende oder Märchen, folgt aber einer wahren Begebenheit. Der Prolog führt ins ländliche Franco-Spanien des Jahres 1953, handelt von einer bösen Stiefmutter und einem tyrannischen Großgrundbesitzer, der verarmte Kleinbauern wie Sklaven traktiert. Ein solcher Bauer kann seine Schulden nur dadurch begleichen, dass er einen seiner Söhne an den feudal residierenden Latifundista "verkauft". So gelangt der siebenjährige Marcos ins "Tal der Stille" als Helfer des einsiedlerisch lebenden Ziegenhirten Atanasio.

Atanasio: ein alter, weiser Mann, bei dem sich Marcos wohl fühlt. Hier wird der Junge nicht mehr verprügelt, sondern zum wissbegierigen, geschickten Lehrling eines abenteuerlichen Lebens. Hier verweilt die Erzählung glücklicherweise am längsten und entfaltet besonderen Zauber, wenn sich die Begegnung zwischen Marcos und drei Jungtieren eines Wolfsrudels zum vorsichtig tastenden Dialog entwickelt.

Als Atanasio stirbt, kommt Marcos gar nicht auf die Idee, ins Dorf zurückzukehren. Er wird zwölf Jahre alleine durchhalten und 1965, wenn ihn die Guardia Civil, die nach versteckten Regimegegnern sucht, auffindet, wie ein Schamane aussehen, der sich als "Herr des Tales" fühlt.

Gerardo Olivares streicht die Gegensätze schroff und grandios heraus: Schönheit und Härte. Zugleich wird überzeugend nachfühlbar, warum für Marcos die Existenz im "Tal der Stille" unendlich reicher und freier erscheinen muss als das Dahinvegetieren in zivilisatorischer Not und Fron. "Homo homini lupus": es ist dem Menschen vorbehalten, wölfischer als jeder Wolf zu sein.

ENTRELOBOS, Spanien/Deutschland 2011 - Buch und Regie: Gerardo Olivares. Kamera: Oscar Durán. mit: Juan José Ballesta, Manuel Camacho, Carlos Bardem, Alex Brendemühl. Verleih: Polyband, 111 Minuten.

© SZ vom 11.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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