Neue Biografien über den Komponisten Wolfgang Rihm:Der Unantastbare

Neue Biografien über den Komponisten Wolfgang Rihm: Der Komponist Wolfgang Rihm bei sich daheim in Karlsruhe.

Der Komponist Wolfgang Rihm bei sich daheim in Karlsruhe.

(Foto: Uli Deck/dpa)

Der Komponist Wolfgang Rihm wurde von Anfang an als Sonderfall eingestuft. Das macht seine Einordnung so schwierig. Zwei neue Biografien versuchen es trotzdem.

Von Wolfgang Schreiber

Wolfgang Rihms Musikdenken ist intellektuell geschärft und seine Musik hochexpressiv, emotional aufgeladen. Deshalb ist es kein Wunder, dass gleich zwei ehrgeizige und sehr ungleiche Rihm-Monografien zu seinem Geburtstag erschienen sind.

Wie beschaffen ist scheinbar grenzenlose Kreativität? Wie dicht Rihms Ausdrucksvielfalt in Oper und symphonischem Schwergewicht, Kammermusik, Lied? Eleonore Büning und Frieder Reininghaus, beide lange schon als Musikkritiker tätig, spürten genügend Lust, die imposante physische und geistige Statur des Wolfgang Rihm zu erkunden, seinen künstlerischen Radius auszumessen, das Prestige und "Erfolgsgeheimnis" dieses Mannes. Für Kritiker eher schwierig ist eine Tatsache: Die künstlerische Erscheinung dieses Komponisten gilt heute als quasi unantastbar. Eine Biografie in üblicher Art käme also einem Denkmal gleich, als Chronik seines Lebens und Schaffens.

Neue Biografien über den Komponisten Wolfgang Rihm: Frieder Reininghaus: Rihm. Der Repräsentative. Königshausen & Neumann, Würzburg 2021. 307 Seiten, 34 Euro

Frieder Reininghaus: Rihm. Der Repräsentative. Königshausen & Neumann, Würzburg 2021. 307 Seiten, 34 Euro

Bei beiden Büchern verhält es sich aber anders. Die Musikautorin Eleonore Büning bekennt in ihrer kategorisch "Die Biographie" genannten Darstellung gleich eingangs die persönliche Nähe zum Komponisten und gibt so einen affirmativen Ton an: "Rihm und ich, wir kennen uns seit dreiunddreißig Jahren, wir sind befreundet." Sie habe ihn früher in der Berliner taz einmal "einen Epigonen" genannt und er sie daraufhin als "plemplem" eingestuft. Rihm nun, heute gesehen, sei in vielerlei Hinsicht "ein Sonderfall". Ein Unzeitgemäßer? Gewiss wohl, so Büning, er schreibe die Noten strikt mit der Hand auf Papier, er verzichte auf den Computer, er meide Experimente wie grafische Notation oder elektronische Abenteuer, er entsage den modischen Klanginstallationen. "Das ist wahrlich old fashioned", launig die Autorin. Und dementsprechend freundlich, skeptisch gelassen zwischen viel Pflanzengrün sitzend, blickt Rihm als Coverheld dem Buchkäufer ins Gesicht.

Der Musikwissenschaftler und Publizisten Frieder Reininghaus, lange auch bei der taz und dem Deutschlandfunk tätig, will hingegen mit einer Rihm-Biographie nichts zu tun haben, er versteht seine Expertise und die Abhandlung grundlegend als gesellschaftspolitisch fundiert. Schon der Covertitel verrät entschieden eine konkrete Zielvorstellung: "Rihm. Der Repräsentative". Das Foto dazu zielt punktgenau darauf, durchaus halbironisch: Ein bitterernst, fast verdrossen wirkender Mensch wird da zum Staatskünstler seiner theatralischen Innenschau stilisiert, beethovenähnlich. Erst der komplette Untertitel, im Buch angezeigt, spricht Klartext: "Neue Musik in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland". Musiksoziologie plus Geschichtsschreibung als Rihm-Monografie, kein Denkmal.

Den Kritiker Reininghaus interessieren die Beweg- und Hintergründe von Rihms beispiellosem Aufstieg

Es gilt auch hier die Grundüberzeugung des Autors Reininghaus, Musik sei "nicht zu denken ohne ihre gesellschaftlichen Funktionen". Solche Herangehensweise hatte er schon kürzlich in dem zweibändigen Handbuch "Musik und Gesellschaft" mit Hunderten Essays vieler Autoren erprobt. Sein Rihm-Buch folgt mithin keiner linearen "Erzählung", sondern bietet eine Art Kaleidoskop aus 36 lose gestaffelten, nicht der Chronologie folgenden Essays zu Rihms Karriere, ihren Antriebskräften, ihren klingenden Resultaten, ihrer Breitenwirkung. Mehr "wieso" als "was".

Sieben "Zeitfenster" gliedern die drei Dutzend Essays, mit bissigen Titeln wie "Gourmand, Gourmet und Revoluzzer" oder "Aufbruch zum Innersten, allemal entäußert" oder gar "Dionysisch, höllisch, himmlisch". Da verbinden sich biografische Einblicke mit zeithistorischen Ausblicken der Fünfzigerjahre bis heute, Werkporträts, hauptsächlich des Rihm'schen Operntheaters, mit prägnant, oft polemisch zugespitzter Gesellschaftskritik. Nicht vergessen hat der Autor persönliche Begegnungen mit Rihm wie die in einem Feinschmeckerlokal, wo der Hochpreis für eine von Rihm georderte Flasche Wein seine Gegenwehr provozierte. Den Kritiker Reininghaus interessieren die Beweg- und Hintergründe von Rihms beispiellosem Aufstieg nicht nur in den Zirkeln der zeitgenössischen Musik, sondern auf den Bühnen und Podien des bürgerlichen Musikbetriebs.

Neue Biografien über den Komponisten Wolfgang Rihm: Eleonore Büning: Wolfgang Rihm. Über die Linie. Benevento Verlag, München-Salzburg 2022. 344 Seiten, 24 Euro

Eleonore Büning: Wolfgang Rihm. Über die Linie. Benevento Verlag, München-Salzburg 2022. 344 Seiten, 24 Euro

Der Komponist selbst und sein Lebenswerk werden durchaus klug beschrieben, sogar bewundert, und doch vergisst der Autor bei seiner Sicht auf Rihms souverän großzügige Figur nicht das irritierende Merkmal des im Titel benannten "Repräsentativen", situiert im "Kulturbetrieb der alten Bundesrepublik". Die historische "Bezugsgröße" für Rihm sei doch wohl, bei all seiner Freundschaft mit den politikwachen Kollegen Luigi Nono oder Helmut Lachenmann, der Großbürger Richard Strauß, "die repräsentativste deutsche Musikerpersönlichkeit" in der ersten Jahrhunderthälfte.

Darüber, wie über manches andere in dem Buch, lässt sich streiten. Tatsache ist, dass Rihm, auch musikverbandspolitisch der hellwache Geist, sich den Gremien des Musiklebens nie verweigerte: Er "wollte entschieden mitmischen unter dem von ihm früh sehr klar formulierten Motto: 'Ich will bewegen und bewegt sein'". Der lustig-grimmige Wahlkölner Reininghaus denkt dabei gern an "die Kölsche Generalformel für erfolgreiches Netzwerken: 'Von nix kütt nix'". Alle Ebenen in seinem Buch, von der Lektüre Hunderter Zeitschriften- und Zeitungstexte, den Rihm'schen Kommentaren und Essays, zu einer wahren Zitatflut angefeuert, greifen ineinander. Resultat ist eine anregende, oft spannende, auch zum Widerspruch reizende Lektüre.

Rihm ist Dialektiker, er weiß: "Scheitern ist immer Gewissheit. Aus diesem Grund besteht keine Furcht davor."

Viel näher an der Norm biografischer Ausgewogenheit geht Eleonore Büning das Wagnis ein, Leben und Wirken, dazu den Materialreichtum des weit verzweigten, kaum mehr fassbaren Werkkatalogs ihres Freundes Wolfgang Rihm ausbalanciert abbilden zu wollen. Wobei es ihr aber gelingt, auf mehr als 150 der Musikwerke kurz oder detailliert einzugehen, sodann die immens angewachsene Rihm-Diskografie exakt darzubieten. Ein komplettes Werkverzeichnis hätte ihr Buch womöglich gesprengt.

Auch Büning, die mit aller Geduld die intellektuellen wie musikalischen Impulse in Rihms Klangkosmos untersucht, stützt sich auf die Flut der jahrzehntelang medial ausgebreiteten Rezensionen, Kommentare, Interviews. Eigene Erinnerungen an die zahllosen Festivals und Konzerte mit Rihms Musik sind das Pfund, mit dem sie wuchert, mit bilanzierenden Beschreibungen von Aufführungen, deren Bedeutungen, deren Hintergründen.

Schließlich fügt sie ein Paket selbst geführter Gespräche mit Rihm hinzu: "25 Fragen und Antworten zum Alltag des Komponierens" unter dem Titel "Gezielte Verdunkelung". Erste Frage, ein Befund: "Du bist der Inbegriff krisenfesten Komponierens. Das hat man dir schon vor Jahren auf den Kopf zugesagt." Die Anspielung auf einen kolportierten Anstoß Luigi Nonos: "Wolfgang, du brauchst eine Krise." Rihm denkt weiter: Ja, Krisen der Arbeit empfinde "jeder Künstler sowieso als einen integralen Bestandteil des Arbeitsprozesses". Krisen seien "Durchgangsphänomene. Phasen, in denen sich etwas entscheidet".

Ein Fazit? Rihm ist Dialektiker, er weiß: "Scheitern ist immer Gewissheit. Aus diesem Grund besteht keine Furcht davor." Die Darstellung einer derart ausgreifenden, in Werk, Substanz, Wirkung schwer zu fassenden Figur wie die seine benötigt Sammlerfleiß und Geistesgegenwart, vor allem Empathie. Dafür stehen beide Porträtbücher.

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