Zeitgeschichtsschreibung:Stumpfe Gewalteinwirkung

Jenseits von Veteranengemurmel und Schnelldeutung: Zum Ausgang des Jubiläums "Fünfzig Jahre 1968" legt Wolfgang Kraushaar eine Chronik der weltweiten Protestbewegung vor.

Von Jens Bisky

Zwei Fotografien aus dem überfüllten Audimax der Freien Universität Berlin, aufgenommen im Abstand von knapp 13 Jahren, verdeutlichen den Wandel der Zeiten. Auf der ersten, 8. Juni 1967, spielt ein Streichquartett vor Herren mit kurzen Haaren, Schlipsen, in dunklen Anzügen. Nur wenige Frauen sitzen dazwischen. Die Körperhaltung wirkt selbst bei denen kontrolliert, die keinen Sitzplatz gefunden haben. Wenn einer die Beine übereinander geschlagen hat oder lauschend den Oberkörper nach vorn beugt, fällt das auf. Hier sitzen Vertreter einer disziplinierten Schicht, ihr Habitus hat etwas Angestelltenhaftes.

Am 3. Januar 1980 hängt ein Transparent im Audimax. Manche sitzen, viele stehen, und es sind sehr viel mehr Frauen dabei. Hier und da sieht man ein Jackett, aber kaum einen dunklen Anzug, dafür viele Bärte, lange Haare, Schals und Tücher, um den Hals geschlungen, Pullover. Die Menge wirkt bewegt, besteht aus Einzelkämpfern, gelassen, lümmelnd, fragend, mehr ihrer Befindlichkeit verpflichtet als Konventionen oder den Regeln der Institution. Mit dem Soziologen David Riesman könnte man sagen: 1967 sitzen außengeleitete Charaktere im Audimax, 1980 innengeleitete Menschen.

In beiden Fällen trauerten sie. 1967 um den vom Polizisten, Waffennarren und, wie erst wir wissen, Stasi-Agenten Kurras erschossenen Benno Ohnesorg, 1980 um den einstigen SDS-Sprecher Rudi Dutschke. Man findet die Fotografien in Wolfgang Kraushaars illustrierter Chronik der 68er-Bewegung und zugleich stößt man in dieser auf reichlich Material, das dazu anregt, der trügerischen Evidenz des Augenscheins ebenso zu misstrauen wie den eiligen Schlussfolgerungen, Zuschreibungen, abstrakten Epochendeutungen.

Wer war am Ende für Rudi Dutschke wichtiger, Christus oder Karl Marx?

Die Trauerfeiern waren wichtige Augenblicke, aber eben nur Momente neben vielen anderen. Zu jedem Foto müsste und könnte man nach Lektüre der vier monumentalen Bände längere Geschichten erzählen. Zum Transparent "Wir trauern um Rudi Dutschke" wäre etwa zu sagen, dass Dutschkes erste politische Aktion an der gerade errichteten Mauer stattfand. Am 14. August 1961 versuchte er sie mit Kameraden vom Askanischen Gymnasium einzureißen, was misslang. Am Tag zuvor hatte er sich im Notaufnahmelager Marienfelde als politischer Flüchtling registrieren lassen, er war der DDR als einer der Letzten vor dem Mauerbau entkommen.

Man müsste vom Attentat am Kurfürstendamm reden, von den Schüssen auf Dutschke am Gründonnerstag 1968 und von seinem Tod an Heiligabend 1979. Es wäre zu berichten, wie die Theologen und Pastoren Martin Niemöller, Heinrich Albertz, Helmut Gollwitzer ihn als Protestanten, als einen der ihren erkannten und fragen, ob Christus am Ende für Dutschke nicht doch wichtiger gewesen ist als Marx.

Und sofort wäre man wieder im Jahr 1967, war Albertz doch Regierender Bürgermeister, als Jubelperser und Polizei die Demonstranten verprügelten und Kurras Ohnesorg von hinten eine Kugel in den Kopf schoss. Und dann wäre über die eingemauerte Stadt zu reden, die zu Recht so empört war, als die DDR-Grenzpolizei Peter Fechter 1962 im Todesstreifen verbluten ließ. Der schwer verwundete Ohnesorg, man kann es hier fast Minute für Minute nachverfolgen, wurde in einer Klinik am Ku'damm abgelehnt - überfüllt. Dann in der Universitätsklinik Westend zurückgewiesen - kein Chirurg da. Im Krankenhaus Moabit schließlich unterschrieb den Totenschein - mit falscher Todesursache: "Schädelverletzung durch stumpfe Gewalteinwirkung" - der Sohn eines Vertrauten des Schahs, gegen den Ohnesorg demonstriert hatte.

Hier wird die 68er-Bewegung in Vielfalt, ihren Widersprüchen und Paradoxien vorgeführt

Damit ist nur angedeutet, welche Fülle von Geschichten in dieser Chronik steckt. Wolfgang Kraushaar, der durch Fechters Verbluten an der Mauer politisiert wurde, hat sein Leben der Erforschung und Dokumentation der Protestbewegungen gewidmet. Die vier Bände entfalten eine internationale Geschichte in Einzelereignissen. Sie beginnen im Januar 1960 mit Meldungen über antisemitische Schmierereien überall in der Bundesrepublik. Am 17. Januar demonstrierten Londoner gegen die neue Welle des Nazismus: "Don't forget Belsen". Die Chronik endet mit der Trauer um Dutschke und mit dem gleichzeitigen Freitod des Springersohns Sven Simon.

Versammelt sind Bilder und Nachrichten aus aller Welt - von Stanford über Warschau, Moskau bis Tokio, von Oslo über Dakar bis Kapstadt. Besonders wichtige Geschehnisse dokumentiert der geübte Chronist mit hinreißender Detailfülle. Etwa den 2. Juni 1967, den Pariser Mai 1968, den Prager Frühling. Meldungen über den Vietnamkrieg, die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die antisemitische Kampagne der regierenden polnischen Kommunisten, Dokumente über Konzerte, Bücher, Drogen und vieles, vieles mehr kommen hinzu. Kraushaar zitiert ausführlich Zeitungsartikel, Briefe, Erinnerungen. Wo auch immer man aufschlägt, man liest sich rasch fest und erfährt wenig Bekanntes, Übersehenes, Vergessenes. Und doch hat dieses Panorama der 68er-Bewegung vor allem das Ziel, sie nicht festzulegen, ihr nicht ein und nur ein Wesen zuzuschreiben, sondern ihre Vielfalt, Widersprüchlichkeit, ihre Paradoxien vorzuführen.

Man kann davon sehr verschiedenen Gebrauch machen. So lässt sich der Wahrnehmungshorizont der Akteure besser verstehen. Die Annahme, der Bundesrepublik stünde eine neuer Faschismus bevor, klingt im Rückblick irrlichternd ideologisch. Warum sie plausibel wirkte, zeigen die täglichen Meldungen über rechtsextreme Aktionen und ein großer Text, den Sebastian Haffner nach dem 2. Juni 1967 für den Stern schrieb. Er kannte sich aus, hatte im englischen Exil ein Buch über die nationalsozialistische Revolution verfasst.

Auch die Theorieversessenen unter den Achtundsechzigern verstanden nicht, was sie taten

Die Fülle der Gewalttaten fällt auf, von Seiten der Polizei wie der Rebellen. Es war eine Hochzeit der politischen Morde. Man sieht das angstverzerrte Gesicht Patrice Lumumbas, die Attentate auf Malcolm X., Martin Luther King, John F. Kennedy, Robert F. Kennedy, immer neue Prügelszenen, Besetzungen. Fast möchte man vermuten, die größte Leistung der 68er weltweit bestand - gegen die Terroristen in den eigenen Reihen, gegen öffentliche Rufe nach Härte - in der Pazifizierung ihres Protests, in dessen Überführung in die Alternativkulturen der späten Siebziger- und der Achtzigerjahre. Aber es gab nicht nur die einfache Entscheidung zwischen Kommandoaktion, Kommune und Wohnküchengelaber. Eine schöne Pointe ist, dass auch die theorieversessenen, sich ständig explizierenden 68er lange nicht verstanden, was sie taten, dass sie Illusionen unterlagen, Folgen nicht im Blick hatten - wie menschliche Akteure meist.

Wer sich für Eskalationsmechanismen und die Dynamik von Bewegungen interessiert, kommt um diese vier Bände nicht herum. Fast überall, in Warschau, Prag, West-Berlin, Frankfurt, Paris, Berkeley standen die Studenten und bald auch Studentinnen im Mittelpunkt. Sie waren ökonomisch privilegiert, was nicht "wohlhabend" heißt, artikulationsfähig und verfügten über Zeit. Sie hatten in der Kulturindustrie und dem Konsumismus starke Bataillone auf ihrer Seite, obwohl sie beides gern kritisierten. Nie stellten sie die Mehrheit ihrer Generation, gaben aber doch den Ton an. Und die Protestbewegungen unterschieden sich stark von Land zu Land - trotz der erstaunlichen globalen Vernetzung und des Grenzen überschreitenden Interesses.

Das Vergangene liegt als Haufen vor uns, als Knäuel, aus dem jeder und jeder sich seine Fäden ziehen, Geschichten spinnen kann. Was "68" angeht, wird das keiner mehr ohne diese Chronik tun können.

Wolfgang Kraushaar: Die 68er-Bewegung International. Eine illustrierte Chronik. Vier Bände. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018. Ca. 2000 Seiten mit 1000 Fotos und Abbildungen, 199 Euro.

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