25. Todestag:Im Schatten des eigenen Schweigens

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Wolfgang Koeppen hat nach 1954 keinen Roman mehr veröffentlicht. Aber er hat in seiner Münchner Wohnung unermüdlich weitergeschrieben.

Von Lothar Müller

"Ich möchte als Leiche nach Greifswald", schrieb Wolfgang Koeppen Ende Juni 1995, kurz nach seinem 89. Geburtstag, an seinen Verleger Siegfried Unseld. Am 15. März 1996 starb er in München in einem Altenheim der Inneren Mission. Begraben wurde er auf dem Nordfriedhof. Nicht seine Leiche, aber sein Nachlass samt Bibliothek kam nach Greifswald, in seine Geburtsstadt.

Der letzte Brief, den Koeppen an Siegfried Unseld geschrieben hat, beginnt mit den Zeilen: "ich werde dieses Buch und auch andere Bücher fertig schreiben. Lasse mich das schreiben, störe mich nicht." Dass dem grammatischen Futur längst die Zukunft abhanden gekommen war, wussten beide, der Schreiber und sein Adressat. Seit Jahrzehnten war der angekündigte, immer wieder aufgeschobene, schließlich als Phantom entschwindende Roman das große Dauerthema zwischen Autor und Verleger. Anfang der Sechzigerjahre war Koeppen vom Henry-Goverts-Verlag zu Suhrkamp gewechselt. Er brachte seine Trilogie über die Nachkriegszeit mit, die Romane "Tauben im Gras", "Das Treibhaus" und "Der Tod in Rom", die von 1951 bis 1954 seinen Ruhm begründet hatten und ihm 1962 den Büchnerpreis einbrachten. Auch seine Reiseberichte - über Russland, Amerika, Frankreich - waren bei Goverts erschienen.

"So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte."

Nach "Der Tod in Rom" hat Koeppen keinen Roman mehr veröffentlicht. Das Manuskript, aus dem er im Oktober 1974 beim Kritikerempfang des Suhrkamp-Verlags las, hieß "In Staub mit allen Feinden Brandenburgs", ein späterer Versuch "Tasso oder die Disproportion", andere kamen hinzu bis zur Idee eines Seeromans. Der große Roman wurde zum Felsen aus den Zeilen in Goethes Drama, die Koeppen im Typoskript unter den Titel gesetzt hatte: "So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte." Je älter er wurde, desto mehr lebte er im Schatten des nicht geschriebenen Romans, die Figur des verstummten Koeppen wuchs in der Mythologie der Gegenwartsliteratur ins Überlebensgroße hinein.

Er war aber gar nicht verstummt, er schrieb und schrieb. Die Wohnung in der Widenmayerstraße in München, in der er seit 1967 mit seiner Frau lebte, war keine unzugängliche Festung. Für den Lebensroman des alternden Koeppen wäre diese Wohnung die beste Autorin, Zeugin der schriftstellerischen Arbeit wie der Krankengeschichte, die sich in ihr abspielte. Die Umrisse dieses Lebensromans sind erst nach Koeppens Tod deutlich sichtbar geworden. Die Teilnahme des angeblich Verstummten am Literaturbetrieb dokumentierte 2006 der Briefwechsel mit Siegfried Unseld, zugleich die Ausflüchte, Finten und Luftschlösser rund um den nicht geschriebenen Roman, das beiderseitige heroische Festhalten an der felsenfesten Illusion, die zugleich unaufhaltsam zerbröckelte. Der Abschlussband "Gespräche und Interviews" (2018) in der großen Werkausgabe lieferte dazu die Ergänzung.

In Interviews machte Koeppen schon zu Lebzeiten die Krankheitsgeschichte öffentlich, deren Schauplatz die Wohnung in der Widenmayerstraße war. Doch die Strenge, mit der die chronische Alkoholkrankheit und Tablettensucht Marion Koeppens das Leben des Ehepaars im Griff hatte, wurde erst im Briefwechsel der beiden vollends sichtbar, der 2008 unter dem Titel "trotz allem, so wie du bist" erschien. Er beginnt 1944, als Koeppen, damals Drehbuchautor für die Bavaria, die mehr als zwanzig Jahre jüngere Tochter einer Familie aus dem mondänen Milieu Schwabings in Feldafing kennenlernte. Und endet mit seinen bewegenden Notizen aus der Leichenhalle nach dem Tod Marion Koeppens im Frühjahr 1984. "In den Roman dringt immer der Roman meines Lebens ein. Nacht in einem Hotel am Bahnhof", schrieb Koeppen 1977 an Unseld, da waren die kleinen Fluchten aus der gemeinsamen Wohnung schon zum Ritual geworden.

Fast alle Bücher Koeppens bei Suhrkamp waren Neuauflagen, die Trilogie in der Bibliothek Suhrkamp, die Romane des jungen Koeppen, des Mitarbeiters am Berliner Börsen-Courier aus der Weimarer Republik, "Die Mauer schwankt" und "Eine unglückliche Liebe" als Taschenbücher, die Reisebücher, "Die elenden Skribenten", verstreut gedruckte literarische Essays, herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki wie die sechsbändige Werkausgabe zum 80. Geburtstag, auch "Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch" (1992), die Umarbeitung - oder sollte man sagen Aneignung? - der Lebensgeschichte eines deutschen Juden aus dem Jahr 1948. Einiges an kleiner Prosa kam hinzu - und die große Ausnahme, die Originalausgabe der Erzählung "Jugend" im Frühjahr 1976.

Ein höchst gegenwärtiges Buch aus einer Zeit, in der von "Autofiktion" noch nicht die Rede war

Die beginnt mit einem Satz, der lange nachhallt: "Meine Mutter fürchtete die Schlangen." Mit diesen fünf Worten entriegelt Koeppen ein Wehr, und wie lange aufgestaut entströmt ihm eine Prosa, in der tanzende Kommata den Punkt und das Satzende immer weiter hinausschieben: "Regen kommt oft, Wasser stürzt aus den Traufen, Ströme rinnen zur See, Unrat schifft stolz hinab." Das von den Schlangen aufgerufene Paradies geht im Brackwasser einer Familienverlustgeschichte unter. Das Ich, im Anfangssatz noch verborgen, nimmt autobiografisches Treibgut in sich auf, die Kindheit des 1906 unehelich Geborenen, für den der Vater, der Akademiker, eine ferne, unzugängliche Figur blieb.

Eine Kindheit im Kaiserreich und im Ersten Weltkrieg nahm in der Gischt dieser Prosa Gestalt an, eine Jugend in der Revolution und den Anfangsjahren der Weimarer Republik, nah den Erfahrungen des Autors am Theater und als Hilfskoch auf einem Schiff, doch ihnen zugleich ferngerückt. Nur einmal taucht der Klarname "Greifswald" auf, sonst bleibt die Stadt der Kindheit namenlos, wenn auch erkennbar an ihren Kirchen, an den "Silhouetten des romantischen Malers", die Koeppen dem Caspar-David-Friedrich-Kult entführte.

"Jugend" war ein Neueinsatz, kein schlichtes Anknüpfen an die Trilogie über die junge Bundesrepublik. Die neu eroberte Form, in der ein Ich-Erzähler und eine anonyme Stimme einander überlagern, sollte auf die Durchdringung von Autobiografie und Gesellschaftsroman zuführen, auf ein poröses, schwankendes Zugleich. Es hieß damals, Koeppen habe die Errungenschaften von Joyce, Dos Passos, Faulkner in die deutsche Literatur eingebracht, aber noch wichtiger war der literarische Expressionismus von Benn bis Döblin, dazu der junge Brecht, dessen "Legende vom toten Soldaten" Koeppen zeitlebens zu seinen Lieblingsgedichten zählte. "Jugend" war eine Flaschenpost aus den Manuskriptregionen, in denen der nicht geschriebene Roman unterging. Wer dieses große Fragment 25 Jahre nach dem Tod des Autors zur Hand nimmt, liest ein höchst gegenwärtiges Buch aus einer Zeit, in der von "Autofiktion" noch nicht die Rede war. "Jugend" ist ein steil aufragender Orientierungspunkt in dem Echoraum, in dem aktuell Christian Krachts "Eurotrash", Ulrich Peltzers "Das bist du" und ihre Nachbarn stehen.

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