Wolfgang Hilbig: "Essays - Reden - Interviews":Erinnerung und Fantasie

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Wolfgang Hilbig in Berlin-Mitte im Februar 2000. Die Stadt bewegte ihn immer. (Foto: Ute Mahler/OSTKREUZ)

Als Lyriker und Erzähler wurde Wolfgang Hilbig berühmt, jetzt ist er auch als Essayist und Redner zu entdecken.

Von Nico Bleutge

Irgendwann gegen Ende der Neunzigerjahre, schreibt Wolfgang Hilbig in einem Essay, sei er in einen der stillgelegten Industriebetriebe eingedrungen, wo er zu Zeiten der DDR gearbeitet hatte. Die riesigen Fertigungshallen waren leer, alle Apparaturen und Werkbänke aus dem Boden gebrochen und abtransportiert worden. Die Szenerie erinnerte an ein Geröllfeld. Doch zugleich schien sich etwas anderes erhalten zu haben, Spuren einer zweiten Welt, die tief in die Imagination führte: "Es war die Ausdünstung der Wände, jener vielleicht nur eingebildete brandige, schwärzliche Geruch von altem Maschinenöl, der sich im Verputz der Mauern, seit Unzeiten, wie es mir vorkam, festgesetzt hatte."

Erinnerung und Einbildungskraft waren die beiden Vermögen, aus denen sich Wolfgang Hilbigs Literatur speiste. Mit ihrer Hilfe destillierte er seine Texturen, Sphären voller Metamorphosen und sensorischer Reste, die nicht selten "Traumlandschaften im Kleinformat" glichen. In seinem Roman "Ich" etwa verwandelte er den Keller eines Berliner Wohnhauses ins Zentrum einer metaphorisch aufgeladenen Welt, eines Tunnelbaus unter der Stadt, der nicht nur das weitverzweigte Netz der Stasi verkörpert, sondern auch ein großes Bild für das Bewusstsein ist, mitsamt seinem Wahrnehmungsschlick und den Katakomben des Unbewussten.

Dass dabei Gedichte und Prosa im losen Wechsel entstanden, wusste man, nur fanden sich kaum Selbstkommentare zu seinem Schreiben. Man kenne den Lyriker und den Prosaisten, aber kaum den Essayisten Hilbig, meinte ein Interviewer noch 1992. Und Hilbig antwortete: "Ja, ich bin wahrscheinlich nicht so sehr geeignet." Doch hier täuschte er sich. Seine Essays zeigen Hilbig als ebenso gedankenklugen wie stilistisch versierten Schriftsteller, der noch der unscheinbarsten Äußerung eine ganz eigene sprachliche Gestalt zu geben verstand.

Sein erstes Buch war ein Gedichtband, begonnen aber hatte er mit Prosa

In diesem dicken Buch mit Essays, Reden und Gesprächen, das nach mehreren Verschiebungen nun endlich erschienen ist, als Abschluss der siebenbändigen Werkausgabe und gerade noch pünktlich zum Gedenken an Hilbigs 80. Geburtstag, kann man nachverfolgen, wie sehr Hilbig nach seiner Übersiedlung in den Westen 1985 vom Literaturbetrieb aufgesaugt wurde. Aber auch, dass er diese Rolle, allen Lamentationen zum Trotz, durchaus annahm und nutzte, um eben den Betrieb kritisch zu kommentieren. Und um sich fortan verstärkt Gedanken über sein Schreiben zu machen und allzu plane Lesarten zu relativieren.

Das Verhältnis von Literatur und sogenannter Wirklichkeit ist bei Hilbig eine verzwickte Angelegenheit. Schreiben hatte für ihn stets einen "autobiographischen Anlass", es ging ihm darum, sich bestimmte unverstandene Lebensabschnitte zu erschließen, vor allem sein Leben als Arbeiter, als Werkzeugmacher, Monteur, Heizer in den Industriebetrieben rund um seine Geburtsstadt Meuselwitz. Das hat er immer wieder in Interviews und Essays betont. Gleichzeitig wusste er nur zu gut um die Eigenkraft der Sprache. "Ich bin ein Schriftsteller, der von der Sprache ausgeht", erzählte er schon 1984 einem Gesprächspartner. Sprache schaffe eine neue Wirklichkeit, und dieser Wirklichkeit könne man sich nicht entziehen.

Die Anziehungskraft von Hilbigs atmosphärischen Wirklichkeiten verdankt sich nicht zuletzt seiner Satzkunst, in den Gedichten genauso wie in den Erzählungen und Romanen. Sein erstes veröffentlichtes Buch war ein Gedichtband, "abwesenheit", 1979 im Westen bei S. Fischer erschienen. Begonnen aber hatte er mit Prosa. An erzählerischen Formen hat er auch am intensivsten gearbeitet. Seine Prosa besteht aus langen, verzweigten Sätzen, die Gedanken, Wahrnehmungen und Bilder ineinanderschlingen und zuweilen jenem "Gemisch aus einem pflanzlichen Filz" gleichen, das er einmal beschreibt.

Der Literaturkritik warf er vor, nur ein verlängerter Arm der Werbeindustrie zu sein

Diese weit ausgreifenden Sätze lassen sich nun auch in den Essays entdecken. Sie nehmen damals gängige Begriffe wie "Bewusstseinsindustrie" auf, wenden sie oder lagern sie in Atmosphären ein, sodass eine ganz eigene Denkbewegung entsteht. Mit dieser Bewegung gelingt es Hilbig gleichermaßen, ein emphatisches Porträt seines großen Förderers Franz Fühmann anzulegen wie den Hintergrund eigener Erzählungen auszuleuchten, von der Spaltung in Industriearbeiter und Schriftsteller zu erzählen und sich vom "Bitterfelder Weg" mit seiner Vorstellung einer Arbeiterliteratur im Sinne der DDR-Kulturpolitik abzugrenzen.

In der Zusammenschau der Essays und Reden werden die entscheidenden Erfahrungen seines Lebens noch einmal deutlich. Die frühen Jahre als Schlüsselkind, mit der alleinerziehenden Mutter und dem harten Großvater, der im Tagebau arbeitete und ein Analphabet war. Das Schreiben im Kesselhaus. Das Ende dieser Doppelexistenz, nachdem Franz Fühmann eine Veröffentlichung in "Sinn und Form" durchgesetzt hatte und Hilbig eine Steuernummer bekam - Voraussetzung dafür, dass er fortan als "freischaffender Schriftsteller" leben konnte. Die Ausreise in den Westen. Die Bekanntschaft mit dem literarischen Betrieb.

Wie genau er sich mit allem beschäftigt hat, das mit diesem Betrieb zusammenhängt, führen seine Interviews und Poetik-Vorlesungen vor Augen. Hier seziert er den Begriff der Öffentlichkeit, die Medien, den Buchmarkt und vor allem die Kritik. Kritik hielt Hilbig für eine der großen Errungenschaften der Moderne, sie gehörte für ihn wesentlich zum Denken und Schreiben. Zugleich warf er der Literaturkritik seiner Gegenwart vor, keine Maßstäbe zu haben und nur ein verlängerter Arm der Werbeindustrie zu sein, ein Markt, auf dem die Bücher "so widerstandslos und glatt wie ein feuchtes Stück Seife über die Bühne (...) flitzen und wieder verschwinden".

Als Verteidiger der Demokratie untersuchte er Begriffe wie "Freiheit" oder "Macht"

Der Dichter zeigt sich hier als genauer Beobachter seiner Zeit und der Geschichte der DDR und der BRD. Dabei fühlte sich Hilbig mindestens ebenso stark der Aufklärung wie der Romantik verpflichtet. Er war ein großer Verteidiger der Demokratie, untersuchte Begriffe wie "Freiheit" oder "Macht", schrieb früh über die Zerstörung von Landschaften oder setzte sich für obdachlose Jugendliche ein. Seine Dankesrede zum Peter-Huchel-Preis (2002), traditionell eine Gelegenheit, sich mit Huchels Gedichten zu beschäftigen, nutzte er, um eine allgemeine "Demokratie-Verdrossenheit" in Deutschland zu konstatieren.

Diese meinungsstarke Seite seines Schreiblebens war freilich ihrerseits nicht ohne Vereinfachungen und Pointierungen zu haben. Für seine "Kamenzer Rede" (1997) etwa mit ihren Thesen von der alternativlosen "Herrschaft des Profits und seiner Mechanismen" bekam er heftigen Gegenwind, vor allem von konservativer Seite. Übersehen wurde dabei nicht selten die ironische Färbung mancher Passagen und Hilbigs gutes Gespür für kommende Entwicklungen. Egal, ob Berlin, Potsdam oder Leipzig, die Verwandlung von Stadtteilen in "eine Art Pseudo-Schwabing", mit all den Folgen sozialer Verdrängung, sah er früh voraus. Auch ahnte er, dass die deutsch-deutsche Teilung in den Köpfen keineswegs vorbei ist, sondern es "noch Generationen dauern wird, bevor die Wende von den Leuten nicht mehr erlebt wird".

Wolfgang Hilbig: Essays - Reden - Interviews. Hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. In Zusammenarbeit mit Volker Hanisch und mit einem Nachwort von Wilhelm Bartsch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 768 Seiten, 34 Euro. (Foto: N/A)

Natürlich führten die Stellungnahmen auch dazu, dass Hilbig regelmäßig als DDR-Experte herhalten musste. Wie ermüdend er die dauernden Interviews fand, die ihren Höhepunkt rund um die Verleihung des Büchnerpreises 2002 hatten, kann man an den zunehmend ähnlicher werdenden Antworten auf die immer gleichen Fragen ablesen. Für Hilbig war der Weg durch den Literaturbetrieb einer der Ernüchterung. Seine anfängliche Überzeugung vom dialogischen Charakter der Literatur gab er nach und nach auf, in seinen späten Jahren dachte er Literatur vornehmlich als Monolog, daran konnten auch die vielen Lesungen und Preise nichts ändern.

Bei alldem wusste er, dass er Teil des Betriebs war - und spielte das Spiel mit. Und er spielte es nicht nur mit, sondern nutzte Reden und Interviews auch, um ein bestimmtes Bild von sich festzuschreiben. Das Alleinsein, das Schreiben als "Wortkampf", die Fixierung auf die "Altlasten" der Vergangenheit - Vorstellungen wie diese wurden für die Selbstinszenierung verwendet. Wenig hingegen erzählte Hilbig über seine Partnerschaften, über das Zusammenleben mit Margret Franzlik und der gemeinsamen Tochter Constance etwa, die er beide 1982 verlässt, über Silvia Morawetz, Natascha Wodin oder Christiane Rusch. Geschichten über das Soziale bei Hilbig kann man nur anderswo nachlesen, Franzlik wie Wodin haben darüber geschrieben.

Fast zwei Jahrzehnte lang schrieb Wolfgang Hilbig, ohne dass seine Texte eine breitere Öffentlichkeit erreichten. Danach begann der Aufstieg zu einem der eigensinnigsten und gefeiertsten Autoren seiner Zeit. Der Ruhm hielt auch über den Tod hinaus an. Inzwischen ist es ein wenig ruhiger geworden um diesen großen Dichter. In einem seiner frühen Essays träumt er von einem dystopischen Rom, in dem alle Archive und Bibliotheken geschlossen sind. Dieser schillernde Band sollte dazu anregen, Hilbig erst gar nicht im Archiv verschwinden zu lassen, sondern: ihn zu lesen.

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