Süddeutsche Zeitung

Wolfgang Herrndorf: Tschick:Zauberisch und superporno

Maik, wohlstandsverwahrlost, und Tschick, hochbegabt, asozial, werden nicht zu Tatjanas 14. Geburtstag eingeladen. Sie drehen ein anderes Ding. Ein Buch wie ein Roadmovie - nur besser.

Von Gustav Seibt

Gerade wird wieder geklagt, wie mittelmäßig der in der Mitte der Gesellschaft angesiedelte, vorwiegend realistische deutsche Roman der Gegenwart sei. Ja - aber warum lassen die klagenden Kritikerinnen und Kritiker dann so oft Autoren links liegen, die nichts mit diesem erzählerischen Mittelstand zu tun haben? Der träumerische, schräge, lustige und überaus liebevolle Roman "Tschick" von Wolfgang Herrndorf widerlegt das Gejammer.

Man muss das fade kleinfamiliäre Erzählbiotop zwischen Prenzlauer Berg und Frankfurter Nordend, das breit floriert, das aber auch nicht besonders wichtig ist, einfach links liegen lassen, dann bleibt genug übrig. Doch "Tschick", dieses schlechterdings wundervolle Buch, kam nicht einmal auf die Longlist des deutschen Buchpreises.

Herrndorf, der 1965 geborene, sparsam produzierende, jedesmal überraschende Schriftsteller hat nach "In Plüschgewittern" und "Diesseits des Van-Allen-Gürtels" wieder ein Buch vorgelegt, das in die geläufigen Muster nicht passt. "Tschick" heißt es nach seiner Hauptfigur, dem russlanddeutschen Schüler Andrej Tschichatschow, und es schickt seine Leser hinaus aus den randstädtischen Wohnbezirken des neuen bürgerlichen Realismus auf eine Traumreise in ein verrücktes Ostdeutschland, die den alten romantischen Fahrten Tiecks oder Eichendorffs mit heutigen, gelegentlich amerikanisch anmutenden Mitteln folgt. Dieser Tschick ist eine erst geheimnisvolle, ja beunruhigende, am Ende rührende Gestalt, die kaum ein Leser vergessen wird.

Tschick ist der Neue in der Schulklasse von Maik Klingenberg im Osten Berlins, wo ein bürgerliches Wohnviertel an die Plattensiedlungen Marzahns stößt. Tschick ist hochbegabt, bettelarm und asozial. Maik kommt aus eher wohlstandsverwahrlosten Verhältnissen, der Vater scheitert als Immobilieninvestor, die Mutter muss immer wieder in eine Klinik zum Alkoholentzug. Auch Maik ist ein Außenseiter, heimlich verliebt in das schönste Mädchen der Klasse (sie heißt Tatjana, er findet sie "superporno"), aber viel zu unbeholfen und ausdrucksgehemmt, um sich ihr zu nähern. Er gilt als Langweiler, abwechslungsweise als "Psycho", weil er von den Alkoholproblemen seiner Mutter allzu offenherzig in einem Schulaufsatz berichtet hat. Ein blöder Lehrer hat einen großen Fall daraus gemacht.

Tschick ist anfallsweise regelrecht betrunken und trägt unmögliche Klamotten; ein gefährlicher Hauch von russenmafiöser Gewaltsamkeit liegt um ihn. Die beiden sind die Einzigen der pubertierenden Schulklasse, die nicht zum 14. Geburtstag eingeladen sind, bei dem die schöne Tatjana sich zu Ferienbeginn feiern lässt. Darum kann Maik ihr auch nicht eine in liebevoller Kleinarbeit hergestellte Zeichnung von ihrer Lieblingssängerin überreichen.

Wie ein Roadmovie - nur besser

Dafür drehen sie ein anderes Ding. Maik wird mit einer größeren Geldsumme allein in der elterlichen Villa zurückgelassen (der Vater vergnügt sich mit einer Geliebten, während Mutter auf Entzug ist), Tschick klaut einen schrottreifen Lada, und damit, mit dem Geld und dem Auto, brechen die beiden kaum Fünfzehnjährigen zu einer Fahrt ins Blaue auf. Wer jetzt an ein zeitgenössisches Klischee wie Roadmovie mit Slapstickelementen denkt, liegt nicht ganz falsch, verfehlt aber doch das Beste.

Herrndorf schreibt einen Episoden- und Abenteuerroman, der das vermeintlich bestens bekannte und erschlossene Mitteleuropa südlich von Berlin in ein zauberisches Irgendwo verwandelt. Die Jungen fahren ohne genaues Ziel - zu einem Onkel in der Walachei wolle er, sagt Tschick, aber was heißt das schon -, querfeldein, immer in der Gefahr, als Kinder erkannt zu werden. Die Spannung von Verfolgungsjagd und Flucht vor der Polizei liegt über dem Geschehen.

Randständig, exzentrisch, traumhaft poetisch, magisch, oft unheimlich, noch öfter sehr komisch ist, was die beiden ausgerissenen Jugendlichen sehen und erleben. Sie landen auf Mülldeponien, in den Mondlandschaften der Braunkohlenutzung, mitten in Feldern, in Bergen, bei Seen, in namenlosen Gebieten. Sie bauen gefährliche Unfälle. Sie erleben die Natur mit ihren Farbwechseln, Gewittern, Nächten, Regen und Sonne. Und sie begegnen Menschen, die so schräg und überraschend sind wie die Landschaften, durch die sie kommen.

Seltsam teuer, aber nicht mit erkennbaren Marken gekleidete, merkwürdig überhöflich sprechende Menschen mit ungemein sauberen Gesichtern, fast behindert wirkend, entpuppen sich als die Gruppe "Adel auf dem Radel". Vermutlich gibt es dergleichen, Boten einer vergangenen Zeit. Am anderen Ende der Skala entpuppt sich ein Mädchen, das auf einer Mülldeponie lebt, als kluge, feinnervige Verführerin, die selbst Tatjana Konkurrenz macht.

Der letzte Einwohner eines der Braunkohle überlassenen Dorfs, ein in halbem Wahn lebender ehemaliger Soldat, schießt mit einem Gewehr auf die beiden Reisenden - aber eine solche Nacherzählung ist schon eine Auflösung des eigentlich düster und albtraumhaft wirkenden Geschehens. Überhaupt sollte man bei einem solchen Buch nicht zu viel nacherzählen, weil die Atmosphäre einer jugendlich frisch erlebten, morgendlichen und fremden Welt dadurch nicht nur verfehlt, sondern geradezu verletzt würde.

Herrndorf schafft es mit einer wundervoll austarierten einfachen Sprache, die unaufdringlich auf einen real abgelauschten Jugendjargon anspielt, ihn aber nicht naturalistisch kopiert, seine Welt ins Schräge zu drehen und so jung erscheinen zu lassen wie seine Protagonisten. Untergründig kommuniziert sein Ton mit einer anderen Jugendepoche der deutschen Literatur, der Romantik Tiecks und Eichendorffs. Übrigens ist das schon eine Antwort auf manche gegenwärtige Literaturlangeweile: In deutscher Sprache gedieh "Realismus" noch nie gut, unsere Stärken liegen anderswo.

Vom Geist zarter Menschenliebe

Herrndorfs Helden entdecken, es kann nicht anders sein, auch Liebe und Freundschaft auf ihrer Reise; dann den Gedanken von Tod und Sterblichkeit. Diskret und einfach macht Herrndorf das; man soll es nicht einmal durch herausgerissene Zitate kaputtmachen. Überhaupt ist dieses nervöse, mit jugendlicher Zerrissenheit spielende Buch von dem Geist zarter Menschenliebe durchzogen.

Ein Resümee, das Maik, der Ich-Erzähler, gegen Ende zieht, lautet: "Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. Wenn man Nachrichten kuckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war."

Was für eine Liebeserklärung in einem pikaresken, fast kleinkriminellen Zusammenhang! Man lacht viel, wenn man "Tschick" liest, aber ebenso oft ist man gerührt, gelegentlich zu Tränen. "Tschick" ist ein Buch, das einen Erwachsenen rundum glücklich macht und das man den Altersgenossen seiner Helden jederzeit schenken kann.

WOLFGANG HERRNDORF: Tschick. Roman. Verlag Rowohlt Berlin, 2010. 254 Seiten, 16,95 Euro.

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Quelle:
SZ vom 13.10.2010/ls
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