Wolfgang Büschers "Heimkehr":Deutsches Waldleben

Wolfgang Büschers "Heimkehr": „Dafür kann der Wald nichts“: Wolfgang Büscher zieht in eine einfache Hütte ohne Strom und fließend Wasser.

„Dafür kann der Wald nichts“: Wolfgang Büscher zieht in eine einfache Hütte ohne Strom und fließend Wasser.

(Foto: imago stock&people)

Wolfgang Büscher kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück und streift durch ein schwieriges Thema. Kein einziges Mal verliert er seine Spur.

Von Joseph Hanimann

Von den Verbindungen mit dem Wort "Heim" ist das Titelwort dieses Buchs das einfachste. Heimgekehrt ist jeder schon mal, aus dem Urlaub, von einem Auslandsjahr, aus dem Exil. Dann kommen aber doch die komplizierten Restassoziationen. Heimweh. Heimat. Eigenheim. Zu Hause im leer geräumten Elternhaus, weil nun auch die Mutter es nicht mehr bewohnt, beginnt in "Heimkehr" von Wolfgang Büscher die Reise in die Innenwelt eines Schriftstellers, der bisher mit seinen Büchern aus Moskau, Jerusalem und anderswo die deutschsprachige Reiseliteratur wieder aufs Niveau eines Wolfgang Koeppen gehoben hat.

Im geräumten Haus hängt nur noch ein Bild an der Wand. Der Achtjährige mit Seitenscheitel, ärmellosem Pullover und straffen Lederhosenträgern im Bild ist der Erzähler selbst. "Niemand mehr hier, nur er und ich". Beim letzten Gang durchs Haus melden sich aber die Erinnerungen an die Jahre, wo der Junge abends aus dem Fenster lange zum Wald hinüberblickte oder mit Freunden dort Waldhütten baute. In jenen Wald ist Wolfgang Büscher Jahrzehnte später zurückgekehrt und hat sich in einer zum nahen Fürstenhaus gehörenden Jagdhütte einquartiert. In ihm verbringt er, ohne Strom und fließend Wasser, einen langen Frühling, Sommer und Herbst. In ihm spiegelt er facettenreich eigene Erinnerungen, Zeitgeschichte, deutsche Befindlichkeit, postmoderne Lebensweisheit. Und schon glaubt man das Rauschen eines deutschen Archetypus zu hören.

Doch keine Angst. Büschers Prosa ist zu trocken, zu scharf, zu sprunghaft für Schwärmerei. Selbst dem im Holzrahmen über der Hüttentür hängenden Sinnspruch "Ich bin der Wald, ich bin uralt ..." vermag er den romantischen Klang auszutreiben. Keine Waldweisheit also, keine Mystifizierung des Waldes als höheres Wesen. Dem Autor kommt es nur darauf an, "hier zu sein, wirklich hier", allein, am Feuer, in der Stille. Oder im Nachtwind, unter den Sternen, einen Arm unterm Kopf.

Keine Waldwildnis wie bei Thoreau: Wirklich allein ist der moderne Einsiedler nie

Auch wer hier eine zeitgenössische Variante von Henry David Thoreaus Waldwildnis sucht, ist auf der falschen Fährte. Genau das Gegenteil ist der Fall. Büschers Wald irgendwo im Grenzland zwischen Franken und Sachsen, am Bonifatiusweg, wo Protestanten und Katholiken einander einst bekriegten, ist geschichtsgesättigt durch und durch. Der Erzähler mag noch so einsam auf dem Gaskocher seinen Morgenkaffee wärmen, stundenlang durch den Wald streifen oder einfach vor seiner Hütte sitzen, er ist eingebunden in eine permanente Geschäftigkeit. Und er registriert alles, nicht nur das Singen oder Verstummen der Vögel, das Rascheln der Mäuse im Laub, das Vorbeiwatscheln eines Waschbären, das Prasseln des Regens. Er nimmt auch das Heulen der Motorsägen in den engen Reihen der Fichtenplantagen wahr, das Dröhnen der Harvester, dieser gigantischen Stahlsaurier, die nach dem Sturm binnen sechzig Sekunden die vom Sturm gefällten Baumriesen schälen, entasten und zerlegen. Er beobachtet die Schäden des Borkenkäfers oder das zwischen Ernst und Gaudi changierende Schützenfest im nahe gelegenen Dorf.

Wirklich allein ist der moderne Einsiedler eigentlich nie. Mal kommt der Revierförster vorbei in seinem heruntergefahrenen Kleinwagen mit "noch ein paar Monaten TÜV", mal ein Jäger, mal ein Trupp Waldarbeiter. Und der Erzähler notiert die knappe Sprechart dieser Leute, mehr in Stichworten als in ausformulierten Sätzen.

Wenn die Episoden der Langzeitgeschichte wie etwa die Missionierung der Gegend durch den englischen Abt Bonifaz, die Reformation, der Erste und Zweite Weltkrieg auftauchen und sich über das vom Großvater erbaute Elternhaus mit der Familiengeschichte kreuzen, geschieht das immer aus einer nachvollziehbaren inneren Logik. In den kurzen konkreten Kapiteln - "Die Hütte", "Der Förster", "Das Haus", "Die Plage", "Das Reh" - versteht Büscher die disparaten Motive gekonnt zu bündeln und dann wieder schleifen zu lassen. Der Panoramablick des Reiseschriftstellers, gepaart mit scharfer Zeitanalyse, meditativer Betrachtung und feinfühliger Introspektion, bringt das Kunststück zustande, Deutschland zu erzählen aus der Erfahrung des Waldes.

Jäger? Sind nicht nur die etwas anachronistischen Gestalten, die böllernd durch eine imaginierte Wildnis stapfen, sondern manchmal auch Beispiel einer bemerkenswerten Lebensphilosophie, wenn der Erzähler etwa mit einem von ihnen stundenlang auf dem Hochsitz ausharrt und doch kein einziger Rehbock sich vor die Flinte bequemt. Dem Jäger ist das auch recht. Er ist nicht bloß auf das von ihm Gewollte und Geplante fixiert. Das Unerwartete, wie der Anblick der untergehenden Sonne über dem Wald oder einer vorbeistreunenden Füchsin, freut ihn ebenso.

Wenn das Althergebrachte seine Würde hat, bedeutet das nicht, dass es die Lösung für morgen ist

Besonders anrührend, wie der Autor das Hinscheiden seiner Mutter mit seiner Walderfahrung verbindet. Lange Dauer verschmilzt mit Endlichkeit und wirft so ein schillerndes Licht aus Augenblicksglück, Trauer und Nachdenklichkeit über den Text, ohne jede Spur von Sentimentalität. Bis über den gebotenen Moment hinaus hatte die Mutter sich geweigert, ihr Haus zu verlassen, darf sich nun aber im Pflegezimmer Zeit lassen mit dem Sterben. Der Sohn kommt aus seiner Waldhütte hie und da zu Besuch. Aus dem Reden wird allmählich das gegenseitige Anschauen, aus dem Anschauen das Handhalten. Schließlich ist es auch damit zu Ende. Bleibt das schlichte Dasein nebeneinander. "Wir waren in unserem Wünschen und Wollen gefangen gewesen, alle beide, nun waren wir Freie." Er in seiner Waldfreiheit, sie in der Freiheit des Sichgehenlassens. Leichter macht das die Sache allerdings nicht.

Denn es gab da jenen Pakt, der die Mutter ans Haus gebunden und den der Sohn durch sein Weggehen gebrochen hatte. Ihm sinnt er in der Waldeinsamkeit nach. Auch das ein Stück Zeitgeschichte. Anders als ihre Brüder hatte die Mutter als Letztgeborene keine Ausbildung erhalten, dafür aber das Haus geerbt mit der impliziten Auflage, für ihre Eltern zu sorgen und das Haus weiterzuvererben. Gern wäre auch sie in jungen Jahren wohl weggezogen. Doch "sie hielt das Haus, und das Haus hielt sie". Den Pakt hat der zum Studieren in eine ferne Stadt aufgebrochene rebellische Sohn aufgekündigt. Eine "Jury der Jetztzeit" spräche ein hartes Urteil über seine Mutter, sagt er sich. Sein Leben nicht gelebt und seinen Neigungen nicht bis zum Letzten nachgegangen zu sein, erscheint unserem Selbstbestimmungsglauben unverständlich. Doch gerade das hatte die Mutter ihrerseits nie verstanden.

Die Stärke dieses Buchs ist es, dass die Schwierigkeiten unserer Gegenwart nicht im Schutz des Waldes in heile Weltmodelle verpackt werden. Die Spannungen bleiben, die Widersprüche sind ungelöst. Wenn das Althergebrachte seine Würde hat, bedeutet das nicht, dass es die Lösung für morgen ist. Die Städter fantasierten vom authentischen deutschen Wald mit seinen einheimischen Baumarten, sagt der fürstliche Waldbesitzer einmal zum Erzähler, doch sei die aus Kalifornien importierte Douglasie mit der dicken Borke gegen Klimaerwärmung wohl besser gewappnet als die heimische Fichte. Und selbst der über dem Revier liegende politische Schatten kann nicht wegdiskutiert werden. Der alte Schlossherr sei ein hoher SS-Führer gewesen, hatte der Prinz den Förster vor der Einstellung gewarnt: Ob das ein Problem sei für ihn. "Dafür kann der Wald nichts", hatte dieser geantwortet. Wolfgang Büscher lässt uns in diesem so unterhaltsamen wie eindrücklichen Buch nachfühlen, wie glücklich man in der Verlorenheit zwischen den Zyklen des Dauerhaften und der eigenen Vergänglichkeit sein kann.

Wolfgang Büscher: Heimkehr. Rowohlt, Berlin 2020. 204 Seiten, 22 Euro.

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