Zum Tod von Wolf Erlbruch:Das Leben lebt weiter

Zum Tod von Wolf Erlbruch: Ganz klein und doch so tröstlich: Die schwermütige Frau Meier päppelt eine kleine Amsel auf - und dabei auch sich selbst.

Ganz klein und doch so tröstlich: Die schwermütige Frau Meier päppelt eine kleine Amsel auf - und dabei auch sich selbst.

(Foto: Peter Hammer Verlag)

Die Bilder von Wolf Erlbruch geben der Fantasie den Vorrang, als würde sich dort das Eigentliche abspielen. Und vielleicht stimmt das ja auch.

Von Christine Knödler

Frau Meier macht sich Sorgen. Die Kummerwolken über ihrem Kopf wachsen zur seitenfüllenden pechschwarzen Wand an, die Schwärze ergießt sich über Frau Meier. Nicht mal ihr unbesorgter Mann mit Haarkranz und runder schwarzer Brille kann sie aufheitern. Erst als sie einen kleinen Vogel findet, der aus dem Nest gefallen ist, kommt Bewegung in die Bilder und in Frau Meier. Sie päppelt Piepchen auf. So leicht wird die schwere, die schwermütige Frau, dass sie mit Piepchen einen Baum besteigt. Rücken an Rücken sitzen die beiden auf einem Ast, sie schauen in die Ferne, über den weiten Horizont ins Helle, und heben schließlich ab. "Ihr werdet es hoffentlich glauben", bemerkt der Erzähler. Und wer wollte Wolf Erlbruch nicht glauben?

1995 erschien "Frau Meier, die Amsel" bei Peter Hammer, im Hausverlag von Wolf Erlbruch, und fügt sich ein in eine Reihe von Bilderbüchern, mit denen der vormalige Werbezeichner endgültig zum Illustrator und Autor wurde. Erlbruch erzählt nur auf den ersten Blick von Schwerem wie der Depression, denn immer stellt er der Realität die Fantasie zur Seite. Mehr noch: Seine Bilder geben der Fantasie den Vorrang, als würde sich dort das eigentliche Leben abspielen, und vielleicht stimmt das ja auch.

Der konsequente Perspektivwechsel führt zu neuen Einsichten

Es mag einer der Gründe sein, dass Wolf Erlbruch es mit beinahe jedem Thema aufnehmen konnte und das auch tat. Einsamkeit, Angst, die Erfahrung, nicht gemocht zu werden, die Sehnsucht dazuzugehören, der Wunsch nach Freiheit und Sicherheit. Den universellen Inhalten begegnet er mit originellen Geschichten und unerschöpflich einfallsreichen Bildern. Fast jährlich schrieb und zeichnete er ein neues Bilderbuch: "Die fürchterlichen Fünf" (1990) über eine einnehmende Rasselbande, im "Bärenwunder" (1992) will einer dringend Vater werden, und "Leonard" (1991) nimmt es mit seiner Angst vor Hunden auf, indem er selbst ein Hund wird - nur um in seiner neuen Rolle dann kleine Jungs zu fürchten. Das ist Spießumdrehen vom Feinsten. Der konsequente Perspektivwechsel führt zu neuen Einsichten - wir müssen, wir dürfen es nur glauben.

Am Ende seines Abenteuers hüpft Leonard übrigens zurück ins Bett der Eltern. Und da ist er wieder: der Mann mit Haarkranz und runder schwarzer Brille. Dem Künstler Wolf Erlbruch sieht er verblüffend ähnlich. Das ergibt Sinn, denn der hält sich nicht außen vor. Er macht sich nahbar, macht Erfahrung zugänglich.

Dabei ist sein Blick der eines Menschenfreunds, auch da wo er zu der Geschichte von Valérie Dayre die unheimliche, rätselhafte, Kinder verschlingende "Menschenfresserin" (1996) durch seine Bilder stürmen lässt. Die halten das aus. Sein Publikum auch, weil Wolf Erlbruch Kinder ernst nimmt und sie glänzend unterhält. "Nachts" (1999) erlebt ein kleiner schlafloser Junge an der Hand seines schlaftrunkenen Vaters ein unglaubliches Abenteuer, Fantasiewesen und Kunstfiguren beleben die Dunkelheit, Alice aus dem Wunderland und das Kaninchen sind dabei, René Magritte, Erlbruch selbst und viele andere lassen grüßen. Das Bilderbuch, die Literatur, die Kunst werden zum Wunderland. Und das steht allen offen.

Kein Welterklärer, sondern passionierter Fragensteller

Das Buch, das Wolf Erlbruch weltberühmt gemacht hat, ist zu diesem Zeitpunkt schon zehn Jahre alt. "Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat" (1989), nach der Idee und zum Text von Werner Holzwarth, ist längst ein Bestseller. Weil der Maulwurf bei Hase, Ziege, Pferd, Kuh nachfragt, findet er raus, wer ihn, mit Verlaub, beschissen hat, die Kinder erfahren, wie Tiere machen, die doppelte Aufklärung gipfelt nach schönster Kakophonie in einem pointierten Racheakt und Wolf Erlbruch beweist von Anfang an: Er schert sich nicht um mögliche Tabus, er ist kein Welterklärer. Er ist ein passionierter Fragensteller.

Zum Tod von Wolf Erlbruch: Der Autor und Illustrator Wolf Erlbruch, geboren 1948 in Wuppertal, wurde mit Kinderbüchern wie "Ente, Tod und Tulpe", "Frau Meier, die Amsel" und "Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat" berühmt. Er war Träger des Astrid-Lindgren-Gedächtnispreises, der weltweit renommiertesten Auszeichnung im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur.

Der Autor und Illustrator Wolf Erlbruch, geboren 1948 in Wuppertal, wurde mit Kinderbüchern wie "Ente, Tod und Tulpe", "Frau Meier, die Amsel" und "Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat" berühmt. Er war Träger des Astrid-Lindgren-Gedächtnispreises, der weltweit renommiertesten Auszeichnung im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur.

(Foto: Carl Hanser Verlag/dpa)

Entsprechend ruft er auf die immer gleiche Frage zum Auftakt der Gedichte von Jürg Schubiger "Was ist denn das?" für die Illustrationen die ganze Palette seines Könnens ab. Virtuos naturalistische Tierzeichnungen stehen neben grafischen Illustrationen. Nachzulesen, nachzuschauen, zu bewundern ist das in "Schon wieder was!" (2014). Sein Stil in markanter Collage-Technik ist inzwischen stilbildend geworden, Wolf Erlbruch hat Generationen von Illustratorinnen und Illustratoren geprägt und ausgebildet, vor allem hat er Generationen von Kindern beglückt. Dafür wurde er unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, dem Hans-Christian-Andersen-Preis und zuletzt mit dem Astrid Lindgren Memorial Award ausgezeichnet. Und was macht der Mann mit Haarkranz und runder schwarzer Brille? Der streckt die Zunge raus. Die Gedichtzeilen dazu gehen so: "Da warst du halt noch frech und klein. - Oh! Das werd ich immer sein."

Frech und klein und vielleicht ja immer auch Kind bleiben, Fragen stellen und hinschauen - das bleiben die Ausgangspunkte für die Kunst von Wolf Erlbruch. Dann beantwortet der Tod "Die große Frage" (2004) so: "Du bist auf der Welt, um das Leben zu lieben." Der unübersehbar freundliche Tod wird ein weiteres Mal auftreten, in "Ente, Tod und Tulpe" (Antje Kunstmann, 2007) ist er kein Sensenmann, sondern Lebensbegleiter von Anfang an. In Kittelschürze, mit in die Hüften gestemmten Händen, ist er vor allem menschlich. Er ist ein Freund. Er lässt Gedanken zu über sich, das Leben, das Sterben, und über das eigene Verschwinden aus der Welt. Der Tod wartet, bis die Ente ihren letzten Atemzug getan hat. Dann bettet er sie auf den großen Fluss. Er legt ihr eine Tulpe auf die Brust. Jetzt füllt der Fluss das Bild. Die Ente ist weg. Der Tod steht ganz klein am Rand. "Als er sie aus den Augen verlor, war der Tod fast ein wenig betrübt. Aber so war das Leben."

Dieses Leben lebt nun weiter in der Kunst von Wolf Erlbruch. Am 11. Dezember ist er im Alter von 74 Jahren in Wuppertal gestorben. Auch nach seinem Tod bleibt er der freundliche Realist, lakonische Träumer, der einfallsreiche (Lebens-)Künstler, fantastische Zeichner und famose Geschichtenerzähler. Der Mann mit Haarkranz und runder schwarzer Brille bleibt in seinen Bildern. Sein Blick auf die Welt hat die Welt zum Wunderland gemacht. Wir müssen, wir dürfen ihm nur glauben.

Zur SZ-Startseite

Kinderbuch
:Es war einmal zu Weihnachten

Was lesen im Advent? Kinderbuch-Empfehlungen für die gemütlichste Lesezeit des Jahres.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: