Wohnutopien:Keine Idee ist zu abwegig

Wohnutopien: Ein utopischer Vorschlag für München.

Ein utopischer Vorschlag für München.

(Foto: Allmann Sattler Wappner Architekten; Bearbeitung SZ)
  • In Städten wie München wird der Wohnraum immer knapper. Trotzdem haben kreative Lösungsvorschläge wenig Chance auf Realisierung.
  • Es ist an der Zeit, sich wieder auf Ideen statt auf das herkömmliche Stadt- und Wohnungsdenken einzulassen.

Von Gerhard Matzig

München ist der Obelix unter den Städten. Man kann sich fragen, ob die Stadt in ihrer Kindheit womöglich in ein Fass voll Utopismus gefallen ist, sodass sie sich heute Visionen aller Art nicht mehr nähern darf. Der Vergleich zum Comic: Obelix darf keinen Zaubertrank trinken, denn als Kind ist er hineingefallen - und der Druide hat fortan Bedenken gegen eine Überdosis Kraftsaft.

Von Kraft und Tatendrang ist München weit entfernt. Zumindest auf dem Terrain des Wohnens, der Architektur und der Stadtplanung. Auf diesen Gebieten hat sich München in den letzten Jahrzehnten zu einer utopiefreien Zone mangelnder Ambition und zunehmender Banalität entwickelt. Müd-München ist die Hauptstadt baukultureller Verzagtheit, eine Metropole des Stillstands. Es ist kein Zufall, dass sich der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter in Zeiten einer Wohnungsmisere, die nirgendwo sonst so ausgeprägt ist, mit dem Slogan "Damit München München bleibt" wählen lassen konnte. Ist das ein Versprechen oder eine Drohung?

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Schon der Blick in die Baugeschichte lehrt, dass München einmal ein Hotspot der Zukunftslust war. Ein Fantasia der Vorstellungskraft. Zwei der verrücktesten Ideen stammen direkt aus Münchner Planungsbüros. Der Architekt Herman Sörgel konnte sich in den Zwanzigerjahren beispielsweise den Neubau eines ganzen Kontinents namens "Atlantropa" vorstellen. Allerdings hätte man dafür das halbe Mittelmeer trockenlegen müssen. Und Günther Eckert, ebenfalls ein Architekt aus München, entwarf 1979 eine 35 000 Kilometer lange "Röhre" mit einem Durchmesser von 250 Metern. Das sollte das neue Habitat der Zivilisation sein, eine Art Riesen-WG für damals gut vier Milliarden Menschen. Den Bad-Putz-Plan muss man sich mal vorstellen.

Schon möglich, dass München seither etwas allergisch auf Kühnheiten baulicher Art reagiert. Und bestimmt ist es gut, dass man auf das abgesenkte Mittelmeer und ein Leben in der Röhre verzichtet hat. Andererseits gäbe es heute die halbe Stadt nicht (und zwar gerade in ihrer baukulturellen Einzigartigkeit), wenn in den Jahrhunderten zuvor nur Einfallslosigkeit und Status-quo-Denken regiert hätten. Die Münchner Planung, ein großer Zwerg, steht auf den Schultern von Titanen. Man ruht sich aus, muss man sagen. Die Stadt schläft.

Davon künden insbesondere auch die vielen Schlafstadt-Parodien, die in den letzten Jahrzehnten an etlichen Standorten entstanden bis gewuchert sind. Die Wohnungsnot haben die zumeist einfältig geplanten und so lieb- wie anspruchslos gebauten Wohnregale kaum gelindert - aber dafür wurde München an seinen Rändern für viel Geld immer hässlicher, identitätsloser und sogar dysfunktionaler. Der Stadt fehlt es an Ideen von sich selbst. Dem Mia-san-mia-Missverständnis fehlen der Wille und die Energie, etwas anderes sein zu wollen. Etwas Besseres.

Faszinierende Wohnungsentwürfe haben nicht den Hauch einer Chance

Dabei fehlt es nicht an kreativen Ideen, bemerkenswerten Vorstellungen und sogar abenteuerlichen Kühnheiten von einem anderen Wohnen in zugleich besseren Stadtquartieren. Die Architekten und Gestalter, dazu Freiraumplaner und Stadtplaner wären in München wie auch anderswo eher Teil der Lösung als des Problems. Wollte man doch nur endlich mal deren Kreativität nutzen für die Gestaltung der Zukunft. Schon, um der Wohnungsnot abseits der Realsatire namens Heimatministerium beizukommen.

Ungewöhnliche Wohnarchitekturen haben Konjunktur

Für die Umnutzung der wundersam nachkriegsmodernen Paketposthalle im Münchner Westen hat sich das Büro Allmann Sattler Wappner beispielsweise eine eigensinnig verdichtende Hybrid-Lösung einfallen lassen. Büros und Gewerbe, dazu Kreativstandorte und Kultur schieben sie in das hochexpressive Tragwerk, das zugleich auch das Wohnen darüber auf eine identifikatorisch sinnstiftende Weise aufnähme. Als Münchner weiß man: So ein faszinierend verblüffender Entwurf hat nicht den Hauch einer Chance auf Realisierung. Mittlerweile wurde die Paketposthalle, die zuletzt der Post diente, verkauft. Vom Bauträger sind konkrete Pläne nicht oder noch nicht zu erfahren. Aber das, was zuletzt um die Halle herum errichtet wurde an Wohnraumtristesse, lässt kaum vermuten, dass München hier etwas anderes sein will als die große Schwester von Poing.

In Köln wurde vor einiger Zeit ein sechsgeschossiges Parkhaus mitten in der Stadt umgebaut: Drei Etagen Autos stemmen jetzt drei Etagen Wohnen in die Höhe. Ebenfalls dort befindet sich auch eine restaurierte Kirche, die man schrumpfen ließ, um links und rechts vom Altar Wohnraum zu schaffen - womit auch die Kirchenrestaurierung bezahlt wurde.

Bemerkenswertes ist auch aus Berlin zu berichten, wo man die betonierten Überreste einer alten Industriebrache in Künstlerateliers und Wohnraum verwandelt hat. Pläne kennt man aus beinahe allen Städten (bis auf München), wie man die schuhschachteligen Discounter auch mit Wohnraum überbauen könnte. Das flexibler und intelligenter gewordene Baurecht macht ein urbaneres Bauen abseits überkommener Normen zumindest etwas eher möglich, immerhin. Die Ideen für neue und auch ungewöhnliche Wohnarchitekturen haben auch deshalb zunehmend Konjunktur. Bis hin zum aberwitzigen Vorschlag, aus den Brückenpfeilern einer Autobahnbrücke über dem Lahntal bei Limburg (die abgerissen werden soll) elfgeschossige Wohntürme zu machen. Natürlich: Ideen sind zunächst einfach nur Ideen, Denkräume. Sie ermöglichen aber das Einvernehmen darüber, welche Gesellschaft sich welche räumliche Zukunft wünscht.

Dass der Immobilienmarkt strukturell konservativ ist, schon infolge risikoscheuen Investments, ist bekannt. Seit den Bauhaus-Traktaten und der Weißenhofsiedlung, die aus dem gleichen zeitlichen Umfeld stammt wie die Idee vom tiefergelegten Mittelmeer, hat man sich in Deutschland mehr oder weniger von experimentellen Wohnversuchen verabschiedet. Nicht nur in München. Und nicht jede Trabantenstadt der Spätmoderne hat dazu geführt, dass man sich neuen Siedlungsformen gegenüber aufgeschlossen zeigt. Aus mitunter sehr verständlichen Gründen.

Aber jetzt, da die wie ein Virus um sich greifende Wohnungskrise zu neuen Initiativen und baulichen wie baupolitischen Innovationen förmlich zwingt, ist es an der Zeit, sich wieder auf Ideen statt auf das herkömmliche Stadt- und Wohnungsdenken einzulassen. Die Gesellschaft, die nie zuvor so anpassungsfähig war (und so leidgeprüft in den Ballungszentren wie auf dem sterbenden Land), dabei aber auch so offen für heterogene, durchmischte und dynamische, durchlässige und komplexe Wohnraumangebote, erduldet nämlich nicht nur einen Mangel an preislich und qualitativ differenzierten Wohn- sowie lebenswerten Stadträumen, sondern auch ein Defizit an Wohnkonzepten, die zu veränderten Lebenswelten und Biografien passen.

Vom Bodenrecht über die Marktmechanismen der Immobilienbranche bis zur Frage, in welchen Stadträumen welche Wohnräume sein sollen: Alles gehört jetzt auf den Prüfstand. Darin liegt sogar eine Chance in der Krise. Wenn das Land unter Landflucht leidet, lässt sich die Frage, was das Land ist und sein kann, neu denken; und wenn infolge der weltweiten Verstädterung die Ballungszentren am Zuzug ersticken, lassen sich Stadtraum und Wohnen darin überdenken. Die Utopie beschreibt, wörtlich übersetzt, den "Nicht-Ort". Vielleicht ist es Zeit, einen Ort zum Leben daraus zu machen.

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