Wohnen:Wie Frauen aus New York eine lebenswerte Stadt machen

High Line in New York

So idyllisch kann New York mittlerweile aussehen: Blick vom High Line Park in eine Straßenflucht.

(Foto: © Bildagentur Huber)

New York City war ein Moloch. Dann kamen Architektinnen, Stadtplanerinnen und Landschaftsgärtnerinnen - und errichteten zur Abwechslung keine Monumente fürs eigene Ego.

Von Kathrin Werner, New York

Die Stadt war laut, wild und gefährlich, die Häuser so hoch, und sie sah Menschen mit Ghettoblastern auf der Schulter, wohin sie auch ging. "Ich habe New York so geliebt in der Zeit", sagt Annabelle Selldorf. "Überall war Musik. An jeder Ecke gab es andere Gerüche und andere Sprachen. Und dann diese unglaubliche Offenheit für alle und alles, man fühlte sich aufgefordert, daran teilzunehmen. New York war eine große Einladung."

Annabelle Selldorf kam 1979 nach New York, gerade mit der Schule fertig, ein Mädchen aus Köln in der großen Stadt. "Es ist leicht, das New York dieser Zeit zu romantisieren, es war so spannend", sagt sie. "Aber es war kein Spaß, mit dem Messer am Rücken überfallen zu werden." Die U-Bahnen waren schmutzig und unpünktlich, die Häuser verfielen. Einmal fand sie auf dem Campus des Pratt Institutes in Brooklyn, wo sie Architektur studierte, eine Patronenhülse, das war ein Schock. Drei-, viermal wurde sie ausgeraubt. Den Union Square in Manhattan konnte man kaum betreten.

Heute hat Annabelle Selldorf ein lichtdurchflutetes Büro 
direkt am Union Square, ihr Hund Jussi schläft in der Ecke. Nur Bücherregale trennen ihre Büroecke von ihren Mitarbeitern ab, es passt zu ihr: Sie interessiert sich nicht für allzu harte Hierarchien. Ihren Kaffee holt sie sich selbst. Von ihrem Fenster aus kann man sehen, wie die Menschen auf dem Platz in der Sonne sitzen, jeden zweiten Tag ist hier Bauernmarkt, die Leute schlendern an den Ständen voller Blumen und Gemüse vorbei, es riecht nach frisch gebackenem Brot. Das Leben in New York ist besser geworden, seit Selldorf hierhergezogen ist, die Stadt ist sicherer, sauberer, freundlicher, grüner und moderner geworden. Und das liegt auch an Annabelle Selldorf. Sie folgte der großen Einladung, hat ihre Wahlheimat geprägt wie kaum eine andere Architektin. Ihre Gebäude ragen in die Skyline, Millionen New Yorker gehen Tag für Tag daran vorbei.

Es fühlt sich so an, als sei mehr Platz für die Menschen

New York hat sich in den vergangenen Jahren so schnell gewandelt wie sonst kaum ein Ort in der entwickelten Welt. Die Kriminalitätsrate ist gesunken, 1990 gab es noch 2245 Morde in der Stadt, im vergangenen Jahr waren es nur noch 350, New York ist inzwischen die sicherste Großstadt der USA. In den U-Bahnen gibt es keine Graffitis mehr und die Plastiksitze sind sauber. Die Stadt ist rasant gewachsen und trotzdem fühlt es sich so an, als sei mehr Platz für die Menschen. Das liegt vor allem an Architektur und Stadtplanung.

Annabelle Selldorf

Annabelle Selldorf versucht, auch als Fußgängerin zu denken: Ihre Häuser verjüngen sich nach oben, damit sie Passanten optisch nicht erschlagen.

(Foto: Katherine Wolkoff)

Behörden, Architekten, Designteams, Planer und engagierte Bürgerinnen und Bürger haben sich entschlossen, New York lebenswerter zu machen - und dabei spielten und spielen Frauen eine große Rolle. Frauen wie Annabelle Selldorf. Die 55-Jährige hat die wichtigsten Galerien der Stadt gebaut, zum Beispiel die Niederlassung von David Zwirner in Chelsea mit ihrer Betonfassade, die so gut in das industrielle Straßenbild des Stadtviertels passt. Selldorfs Luxus-Apartmenthäuser prägen Manhattan mit ihrer schlichten Eleganz.

Da ist zum Beispiel der Bau mit der Adresse 200 Eleventh Avenue, riesige Wohnungen mit Blick auf den Hudson und einem Fahrstuhl eigens für 
Autos - und doch hat Selldorf das Haus so gestaltet, dass es von der Straße aus kleiner wirkt, als es ist: Die oberen gläsernen Etagen sind ein Stück zurückgesetzt. "Menschen, die an meinen Gebäuden vorbeigehen, sollen eine schönere und bessere Umgebung haben", sagt sie. "Meine Architektur setzt sich damit auseinander, wie Menschen Architektur wahrnehmen. Menschen reagieren extrem sensibel auf ihre Umwelt."

Der Satz hätte auch von Amanda Burden stammen können. Sie war zwölf Jahre lang oberste Stadtplanerin in der Regierung des Ex-Bürgermeisters Michael Bloomberg, eine Visionärin für ein besseres New York. Burden, in jungen Jahren ein Society-Sternchen, die auf einer Best-Dressed-Liste Jackie Kennedy ausstach, lief lange Zeit später, als Stadtplanerin, fast die ganze riesige Stadt zu Fuß ab und teilte die Straßenblöcke neu auf. Industrieviertel wurden zu Wohngebieten umdeklariert, in denen Wohntürme mit Blick aufs Wasser aus dem Boden schossen - mehr Platz in New York für die Menschen.

Amanda Burden

Amanda Burden hat als oberste Stadtplanerin New York zu einer grüneren Stadt gemacht. Auf ihr Konto gehen unter anderem die High Line und die Promenaden am Wasser.

(Foto: Buck Ennis)

Amanda Burdens wichtigste Projekte waren die vielen 
neuen Parks, vor allem die Hafenpromenaden rund um Manhattan und am East River in Brooklyn und Queens. Und natürlich die High Line, der neue, heiß geliebte Park auf den Schienen einer alten Hochbahn. Burden hat die Projekte initiiert und begleitet, ohne sie wäre die High Line vielleicht abgerissen worden, Burden unterstützte das Rettungsprojekt einer Nachbarschaftsorganisation im Meatpacking District und setzte sich gegen viele Widerstände durch.

Kaum vorstellbar, dass es vor wenigen Jahrzehnten noch nach frischem Blut stank

Wo einst Güterzüge neun Meter über der Erde Fleisch und andere Lebensmittel transportierten, blühen seit dem Sommer 2009 Astern und Krokusse, jede Jahreszeit ist anders, die knapp 2,5 Kilometer lange Hochbahntrasse an der Westseite Manhattans ist einer der 
beliebtesten Parks der Stadt und hatte seit seiner Eröffnung bereits mehr als 20 Millionen Besucher. Das ganze Viertel um die High Line herum hat sich verändert, es gibt neue Nobelrestaurants, Haute-Couture-Geschäfte und Eigentumswohnungen - neue Arbeitsplätze und Investments, angezogen von der High Line, sagt Burden. Kaum vorstellbar, dass es hier vor wenigen Jahrzehnten noch nach frischem Blut stank.

Die Gegenden am Fluss, am Hudson und am East River, 
waren vor Amanda Burdens Zeit verdreckte Industriegebiete, die man nicht betreten konnte. Heute sonnen sich hier New Yorker und Touristen, es gibt Wiesen, Bänke, eine kleine Fähre, die East River Ferry, im Sommer ein Freilichtkino und das beste Eis der Stadt. "Wie macht man aus einem Park einen Ort, an dem Leute sein wollen?", fragte Amanda Burden auf einer TED-Konferenz und antwortete: "Es liegt an einem selbst, nicht als Stadtplaner, sondern als Mensch. Man zapft nicht seine Designexpertise an, sondern seine Menschlichkeit." Heute reist die 72-Jährige durch die Welt und erklärt Verantwortlichen anderer Städte, wie sie New Yorks Beispiel folgen können.

Aber auch in New York selbst ist die Arbeit noch längst nicht abgeschlossen, die Stadt kann noch viel besser und grüner werden, glaubt Robyn Shapiro. Die 36-Jährige arbeitet an dem Gegenstück zur High Line: der Lowline. Eine Gruppe Architekten, Designer, Ingenieure und engagierter Nachbarn hat sich zusammengeschlossen, um unter der historischen Lower East Side einen Park zu eröffnen. Robyn Shapiro, eine der Projektleiterinnen, und ihre Kollegen haben eine alte unterirdische Straßenbahnstation dafür gefunden.

Regenbögen in einer Markthalle

"Für mich ist das zukunftsweisend", sagt sie. "In wachsenden Metropolen müssen wir darüber nachdenken, wie wir die Flächen ideal nutzen." Ursprünglich war die Lowline kaum mehr als eine verrückte Idee, Shapiro wollte aus der Idee ein Projekt machen, Realität. "Vielleicht ist das eine typisch weibliche Eigenschaft, dass wir Dinge anpacken und umsetzen", sagt sie.

Robyn Shapiro hat als stellvertretende Projektchefin die Leitung des Lowline Labs übernommen, es ist in einer alten Markthalle in der Lower East Side. Wer eintritt, findet eine Art Gewächshaus, allerdings ohne Glasdach und Fenster. Shapiro kennt alle Pflanzen beim Namen: Sie zeigt auf das Spanische Moos und die dicke Zwiebelknolle. Sie steht am liebsten direkt in der Mitte, wo das Licht so stark hereinfällt, dass man glaubt, man könne es anfassen. "Hier gibt es oft Regenbögen durch die Lichtbrechungen, toll, oder?", sagt Shapiro.

Robyn Shapiro

Robyn Shapiro arbeitet an der Idee der Lowline, einer ehemaligen Straßenbahnstrecke, die zu einem unterirdischen Garten wird.

(Foto: Katherine Wolkoff)

Es wachsen Pflanzen, die mit den unterirdischen Lichtbedingungen gut zurechtkommen sollen: darunter Efeu, Sauerampfer, Farne, Moose und eine Feigenart. Gärtnern unter der Erde sei ziemlich revolutionär, sagt sie. Spiegel auf Hausdächern um die Lowline herum lenken das Licht auf Sonnenkollektoren. Spezielle Röhren transportieren es unter die Erde, wo es domförmige Paneele wieder verteilen. Ein Stockwerk unter der Straße, wo zwischen 1908 und 1948 die Straßenbahnen parkten, wird es ab 2020 oder 2021 einen sonnenerleuchteten Park geben - fast so groß wie ein Fußballfeld. Shapiro sagt: "Wir arbeiten daran, die Vergangenheit mit der Zukunft zu verknüpfen und für alle zugänglich zu machen."

"Viele Menschen bleiben außen vor"

Dieses "für alle" ist ein Stichwort, das auch Elizabeth Kennedy umtreibt. Die Landschaftsarchitektin hat die Trägerkonstruktion und die Bewässerungsanlage für den riesigen Dachgarten auf der alten Werft Brooklyn Navy Yard gebaut, auf dem ndustriekomplex wächst nun Biogemüse. Kennedy betrachtet die Veränderungen ihrer Stadt mit gemischten Gefühlen. Ja, das Leben ist besser geworden in New York, sagt sie, ja, die Parks sind ein tolles Aushängeschild für die Stadt. "Aber viele Menschen bleiben außen vor." Neulich besuchte sie einen der unter Burden aufgepeppten Parks, den Transmitter Park in Brooklyn, er ist wunderschön, aber die Besucher waren alle weiß. Vor dem Eingang saß eine Gruppe junger Leute, die nicht weiß waren. "Die gehen nicht in den Park, weil sie sich da fehl am Platz fühlen", sagt sie. "Es ist zu chic für sie."

Elizabeth Kennedy glaubt, dass sie Landschaften mit 
gutem Design demokratischer machen kann, Grünflächen sollen sich besser in die Umgebung einfügen. Sie wollte schon als Teenager Landschaftsgärtnerin werden, sie kommt aus einer Architektenfamilie, hat schon als Kind mit den Eichenmaterialien ihres Vater gearbeitet, aber immer lieber Pflanzen und Flüsse gezeichnet als Mauern und Dächer. Sie hat ihr ganzes Berufsleben den Grünflächen der Großstadt gewidmet, mitgearbeitet an Gefängnisgärten, Krankenhausdächern und der Erhaltung einer historischen Siedlung, in der sich im 19. Jahrhundert die ersten befreiten Sklaven in Brooklyn niederließen.

Elizabeth Kennedy

Elizabeth Kennedy wollte schon als Teenagerin Landschaftsgärtnerin werden und hat ihr ganzes Berufsleben den Grünflächen New Yorks gewidmet.

(Foto: Katherine Wolkoff)

Gerade arbeitet sie an einem Begrünungsprojekt für einen Sozialwohnungsblock in Harlem, einem steilen Hang, der von hohen Häusern umschlossen ist und bislang fast gar nicht genutzt wird. Sie will kleine Terrassen anlegen mit bunten, beweglichen Metalltischen und -stühlen. "Wenn die Leute ihre Umgebung gestalten können, und sei es nur, indem sie einen Stuhl verrücken, fühlen sie sich mehr damit verbunden", sagt sie. Die Forschung zeige, dass niemand die Möbel stehlen würde. "Die Leute wollen das Vertrauen nicht enttäuschen."

New York ist besser geworden, aber auch extrem viel teurer. Der Bauboom unter Burden und Bloomberg hat vor allem Bürogebäude und Luxusapartments gebracht, günstiger Wohnraum fehlt. Susan Rodriguez macht sich viele Gedanken über diese Entwicklung. Sie zählt neben Annabelle Selldorf zu New Yorks berühmtesten Architektinnen, hat sich aber statt auf 
Luxusbauten auf Museen, Schulen und andere öffentliche Einrichtungen spezialisiert. Jeden Morgen fährt sie mit dem 
Citibike zur Arbeit. Aus dem New Yorker Stadtbild sind die blauen Leihräder nicht mehr wegzudenken, es gibt sie seit 2013. Das System hat mehr als 160 000 Jahresabonnenten, Tendenz: steigend. "Ich finde das eine ganz großartige Neuerung. Gut für die Menschen, gut für die Umwelt, gut für alles", sagt sie.

Als Susan Rodriguez 1982 nach New York zog, half sie in 
einer Obdachloseneinrichtung für Familien aus. "Dass ich jetzt die Gelegenheit bekomme, wirklich etwas zu tun und diesen Menschen ein Stück Würde zu geben, ist etwas Besonderes für mich", sagt sie. Die 56-jährige Stararchitektin, ausgezeichnet mit etlichen Preisen, hat vor Kurzem ein Obdachlosenheim fertiggestellt, es sieht aus wie ein Nobelbau, weil die Fassade so interessant ist. Sie hat Struktur, sie spielt mit Form und Licht und ist nicht nur funktional, sondern auch schön - so etwas gibt es sonst selten im Sozialbau. Drinnen gibt es helle, freundliche Mikroapartments, die Menschen leben auf 25 Quadratmetern, aber haben ihr eigenes Reich.

Susan Rodriguez

Susan Rodriguez entwirft Gebäude, bei denen die Begegnungen der Menschen im Mittelpunkt stehen.

(Foto: Katherine Wolkoff)

Es gibt eine typisch weibliche Architektur, Stadtplanung und Landschaftsgestaltung

Rodriguez hat von der Form der Klimaanlagen bis zur Position der Türen alles durchdacht. Die Türen zu den Wohnungen hat sie zum Beispiel nicht immer an der gleichen Seite angebracht, sondern in Vierergruppen, so entsteht eine kleine Gemeinschaft, die Leute treffen sich in ihrem Teil des Flurs.

SZ-Korrespondentin Kathrin Werner

Kathrin Werner, geboren 1983, ist Korrespondentin in New York. Sie hat schon als Schülerin für die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine ihre Reporter-Begeisterung entdeckt und studierte dann Jura in Hamburg. Danach arbeitete sie bei der Wirtschaftszeitung Financial Times Deutschland, erst als Volontärin, später als Redakteurin für erneuerbare Energien und maritime Themen wie Reeder und Werften und zuletzt als New-York-Korrespondentin. Zur Süddeutschen Zeitung kam sie im Frühsommer 2013. In Amerika kümmert sie sich um allerlei Wirtschaftsthemen: von Amazons Wachstum bis zum Niedergang von Toys'R'Us, von großen Erfindungen bis peinlichen Niederlagen, von Monsanto und Ford bis zu Google und Goldman Sachs. Gerade ist ihr erstes Buch erschienen, es heißt "Liebesglück - wahre Geschichten von der ganz großen Liebe".

Es ist eines von Susan Rodriguez' Lieblingsthemen, sie strahlt und gestikuliert und redet immer schneller, während sie Bilder zeigt. "Mein Design ist inspiriert von den Aktivitäten der Menschen, vom menschlichen Zusammenleben", sagt sie. "Wie wirkt das Gebäude auf die Leute, die darin leben, und auf die Umgebung? Ein neues Haus kann ja eine Nachbarschaft völlig verändern. Die Leute sollen fühlen, dass sich mein Design für sie interessiert."

Abgesehen natürlich von Ausnahmen gebe es doch so etwas wie eine typisch weibliche Architektur, Stadtplanung und Landschaftsgestaltung - und man kann sie überall in New York finden. "Es geht uns weniger darum, die nächste coole Sache zu machen, sondern um den Zweck und den Menschen. Wir bauen keine Monumente für unser Ego", sagt Susan Rodriguez. Sie ist mit Annabelle Selldorf befreundet. "Wir sind eine enge Community", sagt sie. "Es ist ein großes Privileg und eine große Verantwortung, unsere Stadt zu formen. Wir nehmen das sehr ernst."

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