Wohnen:Die Reichen möchten in der Stadt nicht belästigt werden

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Ein Motorradtaxifahrer schläft in Ho-Chi-Minh-Stadt vor einer Werbewand für ein Luxus-Kaufhaus. (Foto: AFP)

Schon immer lebten Mächtige und Machtlose zusammen in der Stadt. Aber die Ungleichheit wächst - und gefährdet das Zusammenleben. Eine Mahnung.

Gastbeitrag von Saskia Sassen

Zog in früheren Zeiten, etwa dem europäischen Mittelalter, ein Reisender über Berge und Ebenen dahin und sah dann in der Ferne eine dichte Ansammlung von Gebäuden, dann wusste er: Dies ist eine Stadt. Heutzutage ist das nicht mehr so einfach. Ein Büropark etwa, in dem eine Menge Hochhäuser aufragen, geschützt durch Zäune und bewacht von Sicherheitsleuten, die kontrollieren, wer ein und aus geht, ist keine Stadt, auch wenn er dicht bebaut ist.

Die Geisterstädte in China, mehr als 50 an der Zahl, sind nicht annähernd mit herkömmlichen Städten gleichzusetzen, obwohl sie extrem dicht und strukturiert sind. Ein Slum dagegen, mit selbst gebauten Behausungen, kleinen Fabriken und Betrieben aller Art, ist ein zutiefst urbaner Raum - ebenso wie die vielen gering verdichteten Städte überall in Europa. Die meisten von ihnen sind kleiner als die weitläufigen Vorstädte der USA und Japans, die per se wiederum keine vollwertigen Städte sind.

Was genau ist also heutzutage eine Stadt?

Eine abstrakte, aber eindringliche Definition, die ich gern verwende, lautet: Die Stadt ist ein vielschichtiges, aber unvollständiges System. Diese Verquickung beschreibt die Fähigkeit von Städten, über geschichtliche Zeiträume und geografische Grenzen hinweg weitaus mächtigere, aber vollständig formalisierte Systeme zu überleben - seien es nun mächtige Konzerne oder mächtige Regierungen. London, Peking, Kairo, New York, Johannesburg oder Bangkok, um nur ein paar zu nennen, haben allesamt diverse Arten von Akteuren überdauert, die viel mächtiger waren als die Städte selbst.

In diesem Konglomerat aus Komplexität und Unvollständigkeit liegt darüber hinaus die Chance der Machtlosen, "Wir sind hier" zu sagen, "Das ist auch unsere Stadt". Oder wie der legendäre Spruch der kämpferischen Armen in Lateinamerika den Regierenden versichert: "Estamos presentes" - "Wir sind anwesend", wir wollen kein Geld, wir lassen euch lediglich wissen, dass dies auch unsere Stadt ist. Es sind in großem Maße die Städte, in denen die Machtlosen ein Zeichen setzen - in kulturellem, wirtschaftlichem und sozialem Sinne. Auch wenn dies überwiegend in ihren Wohnvierteln geschieht, so können mit der Zeit lokale Eigenheiten ein doch größeres urbanes Gebiet erobern - in Form "ethnischer" Ausprägungen von Essen, Musik oder Therapiemethoden.

Nichts dergleichen ist in einem Büropark möglich. Büroparks sind privat kontrollierte Örtlichkeiten, wo Niedriglohnarbeiter tätig sind, aber nicht "erschaffen" können. Tatsächlich nimmt die Zahl der Büroparks wieder stark ab, gerade weil Firmen und ihre Angestellten sich verstärkt die Annehmlichkeiten wünschen, die echte Städte zu bieten haben.

Was wissen wir eigentlich über Städte?

Problematisch bei der Betrachtung von Städten ist die Tatsache, dass sich der Großteil der Forschung, die uns zur Verfügung steht, auf die "600 Städte, die das Wirtschaftswachstum vorantreiben" beschränkt, eine Definition, die McKinsey geprägt hat. Das lässt die große Mehrzahl der Städte außen vor. Um diese 
Lücke zu schließen, hat sich das Igarapé Institute mit der Universität der Vereinten Nationen in Tokio und vielen anderen Organisationen zusammengetan. Gemeinsam wollen 
sie unser Wissen über Städte erweitern, vor allem in Bezug auf ihre Fragilität. Im Zuge dessen werden im Moment mehrere hoch innovative globale Studien angestrengt, um Städte 
auf der ganzen Welt zu erforschen. Doch einiges lässt sich 
jetzt schon feststellen:

In Städten lebten die Mächtigen und die Machtlosen schon immer Seite an Seite.

Seit ihren frühesten Anfängen waren Städte von Ungleichheit geprägt, mussten sich damit auseinandersetzen und haben, hin und wieder, versucht, die Bedürftigen zu unterstützen. Die Geschichte kennt Epochen von stärkerer oder geringerer Ungleichheit, heutzutage haben sich die Unterschiede wieder verschärft. Die Verschiedenheit der Lebensbedingungen geht weit über die Einkommensungleichheit hinaus. In vielen Städten der Welt werden die Spannungen zwischen denen, die Macht haben, und denen, die machtlos sind, offensichtlich. Das betrifft unter anderem auch Städte, die bis vor Kurzem fast zur Gänze verarmt waren.

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So gibt es zum Beispiel in Hanoi, das im Kommunismus eine arme Stadt war, heutzutage luxuriöse "Gated Communities", also eingezäunte und bewachte Wohnviertel, die eine Art Parallelwelt zum Rest der Stadt darstellen. Eine ganz andere Entwicklung findet sich im weitläufigen Terrain von Karachi: ein Kampf um urbanes Land, in dem sich die Armen und Machtlosen behaupten können - zumindest noch.

Ein bedeutender neuer Faktor, der sich vor allem auf die rund 100 Städte auswirkt, die weltweit eine Schlüsselposition innehaben, ist der starke Anstieg von Landerwerb durch Unternehmen. Allein in diesen 100 Städten kauften Konzerne von Mitte 2013 bis Mitte 2014 ausgewiesene Grundstücke im Wert von mehr als 600 Milliarden Dollar, und im Wert von über einer Billion von Mitte 2014 bis Mitte 2015, was auf weiteres steiles Wachstum hinweist. In diesen Zahlen sind die erklecklichen Summen für den Erwerb städtischen Grunds zur Baulanderschließung noch nicht mit eingerechnet.

Während diese 100 Städte einen erheblichen Anteil des 
Gesamtkaufvolumens der Neuerwerbungen ausmachen, sind die Wachstumsraten einzelner Städte besonders auffällig, weil besonders hoch. So gab es zum Beispiel von 2013 bis 2014 
einen Zuwachs beim Grundstückserwerb durch ausländische Firmen um 248 Prozent in Amsterdam/Randstad, um
180 Prozent in Madrid und um 475 Prozent in Nanjing.
Betrachtet man im Gegensatz dazu die bedeutenden Städte in den betreffenden Regionen, betrug die Wachstumsrate nur etwas über 68,5 Prozent für New York, 37,6 Prozent für London und 160,8 Prozent für Peking.

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Die Folgen dieser Käufe machen sich in einigen Städten drastisch bemerkbar, besonders in New York und London, wo der Anteil erschwinglichen Wohnraums immer weiter abnimmt. Im Zuge eines Vorstoßes durch die Regierung Großbritanniens erlaubt ein neues Gesetz privaten Bauunternehmern nun, mietpreisgebundene Wohnungen für einkommensschwache Familien zu erwerben und zu verkaufen. Da das Angebot an günstigen Wohngelegenheiten in London schon jetzt stark eingeschränkt ist, stieß diese Entscheidung auf wütende Kritik.

Städte als Grenzlandschaften von heute?

Stelle ich mir selbst die Frage, wo die Grenzlandschaften von heute zu finden sind, lautet meine Antwort: in unseren Großstädten. Eine Grenzlandschaft ist ein Raum, in dem Akteure aus unterschiedlichen Welten sich mit Erlebnissen konfrontiert sehen, für die es keine etablierten Verhaltensregeln gibt. An der 
historischen Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation führte dies entweder zu Verhandlungen mit den Einheimischen oder - wie in der Mehrheit der Fälle - zu deren Verfolgung und 
Unterdrückung.

Die heutigen Grenzlandschaften in den in dieser Hinsicht bunt gemischten Großstädten zeigen da bei Weitem mehr
 Varianten zwischenmenschlichen Verhaltens. Diejenigen, die über eine gewisse Macht und Einfluss verfügen, möchten nicht von den Armen belästigt werden. Häufig überlässt man diese dann einfach ihrem eigenen Schicksal. In manchen Städten, wie etwa in den USA und Brasilien, kommt es zu extremen 
Polizeiübergriffen. Dies kann jedoch wiederum zu einer
öffentlichen Debatte führen - ein möglicher erster Schritt in einer längeren Entwicklung, zumindest manche Rechte zugestanden zu bekommen. Es sind die Städte, in denen viele der Kämpfe über Rechtsansprüche ausgetragen und auch langfristig Teilerfolge erzielt werden.

Diese mögliche Komplexität der eigenen Machtlosigkeit, die Fähigkeit, Geschichte, eine Kultur und noch vieles mehr zu formen - all dies ist heutzutage stark gefährdet: durch das starke Ausmaß an Stadtsanierungen vonseiten privater Unternehmen genauso wie durch die Verbreitung von "Gated Communities", durch die graduelle Vertreibung des Mittelstands, der sich die hohen Wohnkosten nicht mehr leisten kann, und die gesteigerte Armut selbst in den reichsten Städten.

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