Wo noch Originale zu sehen sind:Wenn die Postkunst zweimal klingelt

Wo noch Originale zu sehen sind: Anna Haifischs „Mutter Maria Bibo“ (2020) kann man online bestellen, das Original kommt mit der Post.

Anna Haifischs „Mutter Maria Bibo“ (2020) kann man online bestellen, das Original kommt mit der Post.

(Foto: A. Haifisch)

Während Museen und Galerien geschlossen sind, verbreitet sich Kunst nicht nur im Internet: Die Postkunst wird wieder belebt, Artotheken denken über ihre Öffnungszeiten nach und Galeristen liefern mit dem Fahrrad aus.

Von Kito Nedo

Als André Malraux einst von seiner Idee eines "musée imaginaire", einem imaginären Museum sprach, hatte er sicher nicht die gegenwärtige Situation im Sinn. Doch tatsächlich scheint die Kunstinstitution noch nie so imaginär wie jetzt: Solange alle Museen und Galerien geschlossen bleiben, existieren sie in erster Linie in der Vorstellung ihres potenziellen Publikums. Der Kunst scheint mit der plötzlichen Schließung der Räume ein großer Teil ihrer Wirklichkeit und Wirkkraft abhandengekommen zu sein. Und selbst wenn der Ausnahmezustand in nächster Zeit gelockert wird, weil beispielsweise kommerzielle Galerien wieder eröffnen und Museen über die Rückkehr zum Betrieb nachdenken: Wie werden die neuen Kunstorte der Zukunft aussehen? Denn genauso wie die Menschen für lange Zeit auf das Händeschütteln verzichten werden, werden sie sich auch nicht mehr im Louvre vor da Vincis "Mona Lisa" oder vor den Toren der Art Basel drängeln. Das zukünftige Museum, die Galerie oder die Messe werden also womöglich ziemlich einsame Orte sein. Überfüllte Vernissagen, Biennalen und Blockbuster-Ausstellungen könnten zur fernen Erinnerung werden. Erst im Moment ihres Verschwindens ist die konstituierende Kraft des sozialen Moments auch in der Kunst überdeutlich spürbar. Die Errungenschaft und das Versprechen des Museums ist die Teilhabe an einem Kunsterlebnis, welches das Sinnliche, die Haptik, die direkte Ansprache durch die Aura des Kunstwerks einschließt.

Die Flut an Online-Angeboten suggeriert auch Teilhabe - befriedigt aber keinerlei sensorielle Bedürfnisse. Immersion im eigentlichen Sinne ist in virtuellen Gefilden höchst beschränkt. Doch seit Beginn der Krise treten viele Museen, Galerien und Messen die Flucht ins Virtuelle an. Weil anderswo nichts stattfinden darf, muss online nun ganz viel passieren. Wer diese Entwicklung kritisiert oder sogar nicht so spannend findet, muss sich plötzlich rechtfertigen.

Dass soziale Medien rigide Bilder von nackten Körpern löschen, erfahren auch Künstler und Museen

Im besten Fall könne die aus den Umständen der Situation erzwungene Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten von Museen und Galerien im Netz ein neues Nachdenken über Zugänglichkeit, Archivierung und Dokumentation entstehen, hofft die Londoner Kunstkritikerin Orit Gat in einem Beitrag für die Online-Plattform Art Agenda. Aber: "Man darf nicht vergessen, dass das Internet ein Überwachungssystem ist, ökologische Ressourcen vernichtet, materielle Interessen bündelt, auch wenn es uns unterhält und Kontakt ermöglicht." Nicht nur das. Instagram und Facebook sind auch aus weiteren Gründen keine echten, freundlichen Umgebungen für Kunst. Sie sind es allein deshalb nicht, weil sie schon aufgrund ihrer eigenen medialen Beschränktheit die Vielfalt der Kunst nicht einmal annähernd abbilden können. Sie agieren zudem auch als willkürliche wie mächtige Zensoren. Künstler oder öffentliche Sammlungen, die sich etwa mit dem nackten Körper beschäftigen, haben mit dieser rigiden Löschpraxis bereits Erfahrungen machen können.

Könnte die zunehmende Virtualisierung der Kunst im Gegenzug eventuell sogar zu einer Wiederauferstehung von halb vergessenen, analogen, längst historischen und sonst wie randständigen Kulturpraktiken führen? Anzeichen dafür gibt es. Das New Yorker Zeitungsmagazins Civilization , hat sich Praktiken der Mail-Art ("Postkunst") neu aneignet. Wer den Machern drei Dollar überweist, bekommt eine Art personalisierten Brief mit subjektiven Beobachtungen über das Leben im New Yorker Stillstand zugesendet, die auch Rezepte oder Spielanleitungen umfassen. Kunstvolle Ablenkung eben. Civilization bezieht sich ausdrücklich auf den Mail-Art-Pionier und Pop-Avantgardisten Ray Johnson, der in den Sechzigern die Postzustellung für die Kunstzirkulation außerhalb von Museen und Galerien für sich entdeckte. Als Mail-Art-Aktivist der "New York Correspondence School" spannte er ein Netz von Korrespondenzen, die in einer Art diskreter Öffentlichkeit stattfanden. Kunst war für ihn ein großes Kommunikationsspiel, er versah seine auf dem Postweg versendeten Zeichnungen und Collagen oft mit Anweisungen, wem sie in welcher Reihenfolge gezeigt werden sollten: "Dear Barbara Haskell, please send this Drawing of a Puck to Tom Armstrong; to present to Paul Cummings; then to David Hockney." In diesem Sinne kann man den Leuten von Civilization auch auf Papier zurückschreiben.

Überall scheinen plötzlich auch oft unspektakuläre, fest in den lokalen Szenen verwurzelte Alternativen zur großen Flucht ins Virtuelle auf. Im Berliner Prenzlauer Berg hängten Künstlerinnen und Künstler zu Ostern in einer konzertierten Aktion Kunst aus dem Fenster und über ihre Balkonbrüstungen, sodass sie in den Straßen sichtbar werden konnte. Zur gleichen Zeit klebten Leipziger Kunstaktivisten kleine, mit Kunst gefüllte Papiertüten an das Schaufenster des Kunstvereins D21, um das Jahresthema "Kontaktaufnahmen" trotz der allgemein gebotenen Kontaktsperre weiter zu verfolgen. "Greift zu und nehmt Euch ein wenig Kunst mit nach Hause!" riefen die Initiatoren in einer E-Mail auf. "Und wenn Euch eine Künstlerin/ein Künstler gefällt, dann tretet gern mit ihr oder ihm in Kontakt!"

Politiker sollten sich schon um das Publikum kümmern, das derzeit vor verschlossenen Museen steht

Glücklich können sich nun all jene schätzen, die selbst schon Kunst besitzen und mit der Kunst leben. Aber müssten nicht gerade jetzt Kulturpolitiker auf allen Ebenen alles daran setzen, dieses Privileg möglichst vielen Menschen zu ermöglichen? Muss es wirklich so sein, dass - zugespitzt formuliert - derzeit nur wohlhabende bis extrem reiche Menschen die Originale in ihren Privatsammlungen erleben können, während alle anderen vor den geschlossenen Türen der öffentlichen Sammlungen stehen? Dabei gibt es auf institutioneller Ebene sogar Werkzeuge, die Kunst zu weniger wohlhabenden Menschen nach Hause oder in öffentliche Gebäude zu bringen.

In Deutschland allein gibt es etwa rund 140 Artotheken, in denen man sich Kunstwerke so unkompliziert ausleihen kann, wie man sich in der Stadtbibliothek ein paar Bücher ausleiht. Oft sind diese Einrichtungen an Bibliotheken oder Kunstvereine angegliedert. Diese Einrichtungen müssten eigentlich prädestiniert sein, gerade jetzt mitzuhelfen, damit sich möglichst viele Menschen zumindest einen Teil der Kunsterfahrung nach Hause holen. Dass Kultur im Moment nur noch virtuell stattfindet, das sei "dramatisch" findet etwa Astrid Bardenheuer, die erste Vorsitzende des deutschen Artothekenverbandes. Bardenheuer berichtet aber auch von Bedenken potenzieller Nutzer wie auch administrativen Hürden, die aktuell einem Verleihbetrieb entgegenstehen. Die allermeisten Artotheken hätten deshalb ihren Betrieb bis auf Weiteres eingestellt. Als Leiterin der Artothek in Köln erreichen Bardenheuer derzeit vor allem Bitten um unbürokratische Verlängerung bestehender Ausleihen. Stärker als der Wunsch nach Abwechslung sei eben derzeit das Bedürfnis, sich zu schützen, indem man seine Wohnung nicht verlässt und etwa öffentliche Verkehrsmittel meidet. Doch auch wenn keine Ausleihen stattfinden könnten, so könnten aber zumindest Kunstankäufe durch Artotheken ein Mittel darstellen, Künstler in der derzeit schwierigen Lage direkt zu unterstützen.

Auch für Marius Babias, Direktor des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.), hat die Verlagerung von Ausstellungen ins Netz einen "Surrogat-Charakter". Kunst im Internet könne also lediglich behelfsmäßiger, nie ein vollwertiger Ersatz des Eigentlichen, also der direkten Kunsterfahrung sein. Aber Babias sagt auch: "Der Bedarf an kultureller Bildung ist immens." Mit einem rund 4000 Kunstwerke umfassenden Bestand gilt die Artothek des n.b.k. als die größte derartige Einrichtung in Deutschland. Anders als viele andere Artotheken verfügt der Kunstverein über ein jährliches Budget für den Kunsterwerb und setzt den Ankauf gezielt auch als Instrument der Berliner Künstlerförderung ein. Menschen mit einem Wohnsitz in Berlin können sich hier kostenlos für drei Monate Originalkunst, etwa einen Siebdruck von Andy Warhol oder eine Fotogravur von Marina Abramović ausleihen. Bezahlt werden muss lediglich eine kleine Versicherungsschutzgebühr von drei Euro. Einen Lieferservice per Kurier für Leihkunst, so wie ihn jetzt manche Stadtbibliotheken mit Büchern anbieten, lehnt Babias jedoch ab. Kunst sei eben "kein Essen auf Rädern".

Der Galerist liefert die Editionen derzeit innerhalb von Berlin mit dem Fahrrad aus

Was aber, wenn der Hunger nach Bildern und Internetverdruss immer größer werden? Dann sollte man eventuell erwägen, sich vielleicht doch selbst einmal Kunst zuzulegen. Viele, vor allem grafisch arbeitende Künstlerinnen und Künstler bieten ihre Werke zu moderaten Preisen längst über ihre eigene Webseite an. So wie die Leipziger Grafikkünstlerin und Illustratorin Anna Haifisch, bei der man beispielsweise großformatige Siebdruckblätter schon für 25 Euro kaufen kann. Damit kosten sie so viel wie ein gebundenes Buch. Oder man nimmt etwas mehr Geld in die Hand und erwirbt eine der Editionen, wie sie etwa von dem Wiener Kunstmagazin Spike angeboten werden, unter anderem von zeitgenössischen Größen wie Jon Rafman, Heimo Zobernig, Lu Yang oder Simon Denny.

Fündig wird man auch bei Galerien. Zum Beispiel bei Alfons Klosterfelde, der in Berlin eine Editionsgalerie betreibt. Klosterfelde bietet Kunst ab 600 Euro an und führt unter anderem Editionen von Aleksandra Domanovic, Rosemarie Trockel oder Hanne Darboven im Programm. Bestellungen innerhalb Berlins liefert der Galerist sogar selbst mit dem Fahrrad und dem gebotenen Sicherheitsabstand aus.

Die gegenwärtige Krise stellt alles infrage. Es wird sich etwa zeigen, welche virtuell-digitalen Angebote auch längerfristig sinnvoll sind. Doch die nun notwendige Kreativität und Pragmatismus ist in allen Bereichen gefordert. Gerade in der Politik und den Verwaltungen. Die besten neuen Ideen sind diejenigen, die spezifisch für die bildenden Künste funktionieren. Jetzt ist der Moment für die Entwicklung neuer und interessanter Ansätze da, gerade für die Welt außerhalb der alles gleichmachenden Bildschirmen. Dort, wo es auch die bisherigen kulturellen Errungenschaften zu verteidigen gilt.

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