"Wo ist Anne Frank?" im Kino:Ausbruch aus der Vitrine

"Wo ist Anne Frank?" im Kino: Ein Fantasiewesen: Anne Frank (links) redet mit ihrer imaginären Freundin Kitty, die in "Wo ist Anne Frank?" lebendig wird.

Ein Fantasiewesen: Anne Frank (links) redet mit ihrer imaginären Freundin Kitty, die in "Wo ist Anne Frank?" lebendig wird.

(Foto: Farbfilm Verleih)

Der israelische Animationsfilmer Ari Folman wurde beauftragt, Anne Franks Tagebuch neu zu verfilmen. Er fand eine ungewöhnliche Lösung.

Von Anke Sterneborg

Anne Frank und ihr Tagebuch, damit beginnt für viele die Bewusstwerdung eines Menschheitsverbrechens, die erste Konfrontation mit dem Holocaust. Ein Geschehen, das mit dem Fortschreiten der Zeit in immer weitere Ferne rückt - weshalb die Hüter der Erinnerung auf der Suche nach neuen Formen sind, die Geschichte in die Gegenwart junger Menschen zurückzuholen.

Das Anne-Frank-Haus in Amsterdam etwa hat vor drei Jahren eine holländische Webserie produziert, in der Anne Frank zum Geburtstag statt eines Tagebuchs eine Videokamera bekommt und danach kurze Filme aus ihrem Leben postet: "Das ist also mein Leben!" sagt sie da direkt in die Kamera, gespielt von der 13-jährigen holländisch-mexikanischen Luna Cruz Perez, die die Texte in ihren eigenen Worten improvisiert, und dann laufen ihr Tränen über die Wangen.

Alle paar Tage wurden neue Clips veröffentlicht, als wäre Anne eine Influencerin, die ihre Gedanken mit ihren Followern teilt, auch über die im echten Tagebuch erzählte Zeit hinaus. Einen ähnlichen Ansatz hatte der von BR und SWR produzierte Instagram-Account @ichbinsophiescholl, in dem Luna Wedler als Sophie die Kids von heute ganz subjektiv und in imaginierter Echtzeit an den letzten zehn Monaten ihres Lebens teilhaben lässt.

Stellvertretend für die Kinder, die heute ins Kino gehen, stellt Kitty viele Fragen

Als der israelische Animationsfilmer Ari Folman ("Waltz with Bashir") von Anne Franks Familie das Angebot für eine Neuverfilmung des Tagebuchs bekam, wollte er die Kinder von heute ebenfalls möglichst direkt ansprechen. Um die Bedenken, die sich da sofort auftürmen, zu zerstreuen, arbeitete er das Tagebuch zusammen mit dem Grafiker David Polonsky zunächst zur Graphic Novel um. Erst deren Erfolg ebnete den Weg für den Film, dessen Hauptfigur nicht Anne ist, sondern ihre imaginäre Freundin Kitty, die bisher stets stumme Adressatin ihrer Tagebucheinträge.

Wie der Geist aus Aladins Wunderlampe steigt Kitty nun im Anne-Frank-Museum aus den Buchseiten auf und materialisiert sich genauso, wie Anne sie sich vorgestellt hat. Während die Besucher auf die Öffnung der Türen warten, schaut sie sich erstaunt in den leeren Räumen um, ruft nach Anne, ihrer Schwester Margot und deren Eltern - denn für sie ist die Zeit stehengeblieben, am 1. August 1944, an dem Anne zum letzten Mal etwas in ihr Tagebuch geschrieben hat.

Als die Wärter kommen, versteckt sie sich, stellt aber bald fest, die können sie gar nicht sehen. Sie rennt in Annes Zimmer und wundert sich über all die übergriffigen Besucher, die Annes Privatsphäre missachten, und beobachtet einen Jungen, der das Gedränge für Taschendiebstähle nutzt. Als wieder Ruhe einkehrt, öffnet sie das Buch. Wie für alle anderen Leser wird es auch für Kitty ganz konkret zum Fenster in die Vergangenheit, in Annes Leben im Versteck. In diesen Rückblenden lebt Anne wieder.

Zeitreise-Abenteuer brauchen feste Regeln: Kittys Existenz ist an das Buch gebunden, für alle sichtbar wird sie nur, wenn sie das Haus in der Amsterdamer Prinsengracht verlässt, in dem sie Annes imaginäre Freundin war. Entfernt sie sich zu lange vom Buch, dann beginnt sie, sich aufzulösen, in ein Knäuel von Tintenfäden, die langsam aufsteigen und sich zerstreuen. So entstehen tolle Bilder, auch für erwachsene Zuschauer.

Stellvertretend für die Kinder, die heute ins Kino gehen, stellt Kitty viele Fragen, lässt sich von Anne den Wahnsinn des Nationalsozialismus erklären. Warum es die Nazis auf die Juden abgesehen hatten, fragt Kitty, und Anne erklärt, es seien immer die Minderheiten gewesen, denen die Schuld für Missstände gegeben wurden. In der Gegenwart wird Kitty zur Detektivin, die herausfinden muss, was mit Anne und ihrer Familie geschehen ist, zur Manga-Mädchen-Actionheldin in rasanten Verfolgungsjagden durch die Stadt, in der die Kinder ihre Fluchthelfer werden.

Der Film ist ein guter Trick, um die luftdichten Vitrinen des Museums zu sprengen

Dabei fallen ihr in der ganzen Stadt die Zelte und Lager der Geflüchteten aus aller Welt auf, die sich an Feuertonnen wärmen. Und während in der Vergangenheit monströse Soldaten in Schwarz mit ihren bösen Bulldogen im Stechschritt durch Amsterdam marschieren und den Abtransport in die Lager vorantreiben, kommen die Polizisten von heute, um Geflüchtete einzusammeln und abzuschieben, darunter auch ein kleines, afrikanisches Mädchen, das Kitty erzählt, was ihr widerfahren ist.

Kittys animierter Tanz zwischen den Zeiten ist ein guter Trick, um die luftdichten Vitrinen zu sprengen und frischen Wind ins Museum zu pusten. Und vor allem, um aus Anne Frank ein echtes Mädchen zu machen, das auch mal pubertär aufmüpfig ist, mit der Zahl ihrer Verehrer angeben und sauer auf seine Mutter sein darf. Der Verlust des Tagebuchs, das Kitty mitgenommen hat, führt zu einer fieberhaften Suchaktion, überall hängen Plakate, die dem Finder hohe Belohnungen versprechen. Kitty versteht die Aufregung nicht - sie möchte lieber in Annes Sinn etwas für Verfolgte tun. Der schlimmste Gang der Erkenntnis steht ihr da noch bevor.

"Where is Anne Frank?" Belgien, Luxemburg, Frankreich, Niederlande, Israel 2023, Regie und Buch: Ari Folman, basierend auf dem Tagebuch von Anne Frank. Mit den Stimmen von Emily Care, Sebastian Croft, Ruby Stokes. Verleih. Farbfilm, 104 Minuten. Kinostart: 23. 2. 2023.

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