Süddeutsche Zeitung

"Wo in Paris die Sonne aufgeht" im Kino:Liebe in der Gegenwart

Eine radikale Bestandsaufnahme, ein berührender Film: "Wo in Paris die Sonne aufgeht" von Jacques Audiard.

Von Annett Scheffel

Bevor wir auch nur einen Menschen gesehen haben, sehen wir die kalten Fassaden der Hochhäuser. Ein Viertel aus Beton und rechten Winkeln. Triste Wohneinheiten, Stockwerk über Stockwerk über Stockwerk. Aber so überschwänglich wie die Kamera in weiten Bögen an den unzähligen Fenstern vorbeigleitet, versteht man gleich: Die ganz und gar unromantischen Wohntürme sind der ideale Schauplatz für Jacques Audiards modernen Liebesfilm. Hier treffen Menschen mit ganz verschiedenen Geschichten, Temperamenten und Sorgen aufeinander. Ein Ort des mehr oder weniger zufälligen Zusammenpralls.

"Les Olympiades" heißt das Neubauviertel im 13. Pariser Arrondissement, dem der Film seinen Originaltitel verdankt. Hier, in den Südosten der Stadt, hat Audiard die Handlung von "Wo in Paris die Sonne aufgeht" angesiedelt, die auf drei Kurzgeschichten des New Yorker Comiczeichners Adrian Tomine basieren. Der französische Regisseur hat daraus einen lodernden Film gemacht. In seinem Hochhausviertel gibt es all das, was man von einer solchen Szenerie erwarten würde - Geldprobleme, soziale Spannungen, dysfunktionale Familien -, aber nur am Rande. Hier geht es um andere Probleme. Um nichts Geringeres nämlich als die Neubestimmung von Beziehungen zwischen Liebe, Freundschaft und Sex.

Der Regisseur hat sich früher für Machos interessiert, mit 69 wird er jetzt zartfühlender

Audiard inszeniert ein modernes Beziehungstohuwabohu: Da ist Emilie, Tochter chinesischer Eltern, die unentschlossen von Job zu Job treibt. Als sie einen Mitbewohner sucht, endet ein Besichtigungstermin mit Camille mit Sex. Die aufrichtige, erotische Zuneigung scheitert aber schnell. Der junge, schwarze Französischlehrer will sich auf nichts festlegen und flieht lieber von einer Situation, Partnerin und Wohnung zur nächsten. Bis er die schüchterne Nora kennenlernt. Die ist aus der Provinz für einen Neuanfang nach Paris gekommen, schmeißt aber ihr Jurastudium und nimmt Kontakt zu dem Camgirl auf, mit dem sie auf einer Party verwechselt wurde.

Zaudernde Menschen in der Großstadt, alle in ihren Dreißigern, alle in der digitalen Welt genauso zu Hause wie in der analogen, alle auf der Suche nach irgendwas oder irgendwem, sich verlieben und doch wieder zurückziehen. Mit feinem Gespür für die widersprüchlichen Impulse seiner Protagonisten erzählt der Regisseur, wie sie sich anfühlt, die Liebe, in einer Gegenwart, in der alte Regeln und Kategorien sich genauso verflüchtigen wie Geschlechterklischees und kulturelle Identitäten. Bemerkenswert ist das insofern, als dass der 69-Jährige eher für männliche Geschichten bekannt ist. Seine Figuren sind oft klassische Macho-Männer, gefangen in den engen Grenzen ihrer Umgebung: illegaler Boxklubs, Gangster-Milieus, eines Hochsicherheitstrakts oder - wie zuletzt in "The Sisters Brothers"- des Wilden Westens. Natürlich hat Audiard von diesen schroffen Kerlen immer in Transformationsprozessen erzählt. Seine Filme glauben an das Menschsein, und wenn es auch nicht immer gut ausging, ja, auch an die Liebe. Einen Film wie "Wo in Paris die Sonne aufgeht", diese so sanfte wie radikale Bestandsaufnahme der Liebe im 21. Jahrhundert, hat man trotzdem nicht unbedingt von ihm erwartet.

Es ist eine kluge Entscheidung von Audiard gewesen, für das Drehbuch mit zwei Filmemacherinnen zusammenzuarbeiten, die sich in den letzten Jahren einen Namen als Erzählerinnen junger, weiblicher Perspektiven gemacht haben: Céline Sciamma, die mit "Porträt einer jungen Frau in Flammen" vor drei Jahren in Cannes den Drehbuchpreis gewann und Léa Mysius, die 2017 mit dem ungewöhnlichen Coming-of-Age-Film "Ava" debütierte. Ihren Blick auf die jungen Figuren hat der Regisseur in wunderschöne, klare Schwarz-Weiß-Bilder übersetzt, die Erinnerungen an die Nouvelle Vague heraufbeschwören und trotzdem ganz im Hier und Jetzt bleiben. Nicht zuletzt wird die emotionale Ambivalenz seiner Figuren aber auch von den hinreißenden Darstellern getragen. Lucie Zhang als widerborstige Emilie ist eine echte Neuentdeckung. Und Noémie Merlant (aus "Porträt einer jungen Frau in Flammen") brilliert in der Rolle der Nora, die sich wie eine Fremde im eigenen Leben fühlt - und sich am Ende in einer ganz unerwarteten Situation neu entdeckt.

Les Olympiades , Frankreich 2021 - Regie: Jacques Audiard. Buch: Céline Sciamma, Léa Mysius, Jacques Audiard. Kamera: Paul Guilhaume. Mit: Lucie Zhang, Makita Sama, Noémie Merlant, Jehnny Beth. Neue Visionen, 106 Minuten. Kinostart: 7. April 2022.

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