Wissenschaftliches Projekt:Per Joystick durch barocke Welten

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"Corpus" schafft Bilderbauten historischer Kunstschätze in 3D und ermöglicht auf diese Weise deren Begehung in einem virtuellen Raum

Von Jürgen Moises

Als eine Art von "Berauschung" und "Totalempfindung" beschrieb der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin im Jahr 1888 das Erlebnis, eine barocke Kirche, Residenz oder ein barockes Schloss zu betreten. Um zu begreifen, was er damit meinte, muss man nur einen Schritt aus dem wintergrauen Alltag der Sendlinger Straße hinein in die goldglänzende Marmorwelt der Münchner Asamkirche tun. Deren Architektur mit ihren geschwungenen, üppigen Formen vereint sich hier mit der Skulptur und Malerei zu einer prunkvollen Parallelwelt: einem Himmel auf Erden, der, von Menschenhand geschaffen, ein Gefühl der Transzendenz anstrebt.

In unserem digitalen Internetzeitalter könnte man anstatt von "Totalempfindung" oder "Transzendenz" vielleicht auch von "Immersion" reden. Gemeint ist damit das Eintauchen in eine künstlich generierte, virtuelle Welt. Und tatsächlich scheinen die barocken "Bilderbauten", von denen die Kunstgeschichte heute spricht, von den virtuellen Realitäten nicht so weit entfernt zu sein. Historisch gesehen haben beide in den perspektivischen Gemälden und Architekturmodellen der Renaissance sogar ihre gemeinsamen Vorgänger. Dass die barocke und die virtuelle Welt aktuell in einem kunsthistorischen Forschungs- und Publikationsprojekt zusammenfinden, ist da eigentlich nur konsequent.

Die Rede ist vom "Corpus der barocken Deckenmalerei in Deutschland", einem Projekt, das bereits vor 50 Jahren von Herrmann Bauer und Bernhard Rupprecht an der Ludwigs-Maximilians-Universität initiiert wurde. Insgesamt 15 dicke "Corpus"-Bände sind zwischen 1966 und 2010 erschienen, in denen alle barocken Deckenfresken im oberbayerischen Raum in Form von Texten und Fotografien erfasst wurden. Nach 2010 stand das Projekt zeitweise in Frage. Dank Frank Büttner, der diesem von 1994 bis 2015 als Leiter vorstand, konnte die Arbeit am "Corpus" 2014 finanziell für weitere 25 Jahre gesichert werden. Unter seinem Nachfolger Stephan Hoppe erhielt das Projekt zudem eine neue konzeptuelle Ausrichtung.

Eintauchen in üppige Bilderwelten: eine Orthoansicht aus dem Kaisersaal der Neuen Residenz in Bamberg. (Foto: Illustrated Architecture, Bernhard Strackenbrock)

Konkret bedeutet das, dass sämtliche Forschungsergebnisse nun nicht mehr analog zwischen zwei Buchdeckeln landen, sondern in einer Datenbank und über die Website www.deckenmalerei.badw.de öffentlich zugängig gemacht werden. Außerdem wird bei der visuellen Dokumentation neben professioneller, digitaler Fototechnik auch moderne 3D-Technik eingesetzt. Zwei erste Pilotprojekte wurden bereits realisiert und im Juni 2016 in der Cave (Cave Automatic Virtual Environment) des Leibniz-Rechenzentrums der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Garching vorgestellt: Ein begehbares 3D-Modell des Kaisersaals der Neuen Residenz Bamberg sowie ein Modell der Kammerkapelle der Kurfürstin im Neuen Schloss Schleißheim.

Was nun das "Erleben" dieser virtuellen barocken Räume angeht, so lässt sich nach einer ersten Begehung sagen: Der Detailreichtum der Texturen beeindruckt. Das gilt für die Wiedergabe der raffinierten Stuckdecke der Kapelle genauso wie für die Nachbildung der von Melchior Steidl geschaffenen Decken- und Wandgemälde im Bamberger Kaisersaal. Auch ein Gefühl für räumliche Zusammenhänge stellt sich ein. Trotzdem bleibt am Ende doch der Eindruck, sich durch eine Computerspielewelt zu bewegen. Was aber teilweise damit zu tun hat, dass man in der Cave mit einem Joystick durch den Raum steuert. Wie man die Erfahrung der virtuellen Räume etwa mithilfe neuer Kameras noch realistischer gestalten kann, genau darum soll es jedenfalls in den nächsten Jahren gehen.

Technisch realisiert werden konnten beide Modelle dank verschiedener Kooperationen. So wurde das 3D-Modell des Kaisersaals mithilfe von Fotografen des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte - Bildarchiv Marburg erstellt, mit dem das Münchner Institut für Kunstgeschichte seit 2015 zusammenarbeitet. Außerdem war Bernhard Strackenbrock von der Berliner Firma Illustrated Architecture an der Entstehung beteiligt. Die Kammerkapelle wiederum wurde von Studierenden der LMU-Studiengänge Kunstgeschichte und Kunst & Multimedia unter der Leitung von Ute Engel und Karin Guminski modelliert. Genauere technische Details dazu kann man bereits in der Ausgabe 02/2106 der Zeitschrift Akademie Aktuell finden.

Eine erste Auswertung der Pilotprojekte soll laut der Kunsthistorikerin und Projektkoordinatorin des "Corpus", Ute Engel, im Februar bei einem Workshop in Marburg erfolgen. Für einen sinnvollen Einsatz der 3D-Technik sieht Engel jedenfalls viel Raum. Ein gutes Beispiel dafür ist die Kammerkapelle, die im Original nur eingeschränkt begehbar ist. Im 3D-Modell kann man sogar die sonst für Besucher gesperrte Laterne "betreten". Von ähnlichen denkmalgeschützten Räumen virtuelle Doppelgänger zu schaffen, wäre also eine Option. Auch die digitale Rekonstruktion von zerstörten Räumen hält Engel für möglich. Eine Grundlage dafür könnte ein kaum bekanntes, zwischen 1943 und 1945 geschaffenes Farbdia-Archiv bilden.

Der Einsatz von 3D in der universitären Lehre ist eine weitere Möglichkeit. Im Promotionsstudiengang "Digitale Kunstgeschichte" an der LMU sowie im 2016 neu geschaffenen Masterstudiengang "Digitale Denkmaltechnologien" in Bamberg wird dies teilweise schon praktiziert. Studierende beider Studiengänge sind am "Corpus"-Projekt beteiligt, das man insgesamt als ein Beispiel dafür sehen kann, wie die traditionelle Kunstgeschichte ihre Tore nicht nur für die neue, digitale Technik öffnet. Sie macht sie zugänglich auch für andere, bisher eher "fachfremde" Disziplinen und nicht zuletzt auch für kunsthistorische Laien, um diese verstärkt an die barocke Deckenmalerei, will heißen an die Originalwerke heranzuführen. Auch das, so Ute Engel, wollen die Forscher mithilfe der digitalen Techniken erreichen.

Alle wichtigen Infos zum "Corpus"-Projekt finden sich unter www.deckenmalerei.badw.de

© SZ vom 03.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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