Wirtschaftstheorie:Wer viel hat

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Nur kein Neid. Selbst Kapitalismuskritiker finden die Umverteilung des Reichtums nicht so wichtig wie die Umverteilung der Macht. Denn die kommt mit dem Reichtum automatisch. (Foto: Dan Kitwood/Getty)

Der Bestseller "Das Kapital im 21. Jahrhundert" des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty prägte die Debatte über die Ungleichheit. Drei Jahre später ziehen seine Kollegen nun Bilanz.

Von Andreas Zielcke

Viele Kommentatoren glauben, dass die Allgegenwärtigkeit der Rechtspopulisten dem Protest gegen die Ungleichheit geschuldet seien. So extrem ungleich Vermögen und Einkommen in den USA verteilt sind, und so stark auch in Europa das Gefälle ist: Sind nationalistischer Eifer, Hass auf Fremde oder Islamophobie wirklich damit zu erklären? Wie zum Gegenbeweis haben sie in Amerika mit Trump eine plutokratische Galionsfigur gewählt. Sie neiden dem Geldadel den Reichtum nicht, sie bewundern ihn.

Trotzdem treibt natürlich die Ungleichverteilung das politische Gewissen um, selbst im deutschen Wohlstandsland. Nicht nur von Sozialverbänden, sondern auch vom Internationalen Währungsfonds und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird eine "zu starke Einkommens- und Vermögensungleichheit in Deutschland" beklagt.

Doch trotz aller Klagen gilt bisher stets: Armutsbekämpfung ja, Umverteilung allenfalls marginal. Ungleichheit erscheint wie ein Schwelbrand, der keinen Alarm auslöst. Am wenigsten liegt das an Thomas Piketty. Sein Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert", dessen französische Originalausgabe 2013 erschien, hat mit dem Thema weltweit für Furore gesorgt.

Bis heute wurden, so Piketty zur SZ, zwischen 2,6 und drei Millionen Exemplare verkauft. Mit beispiellosem statistischen Aufwand dokumentiert das Buch, wie sich die Einkommen aus Kapital und Arbeit seit 1800 bis heute auseinanderentwickeln. Nur in den Katastrophen- und Wiederaufbauzeiten vom Ersten Weltkrieg bis zu den Sechzigerjahren schrumpfte die Kluft. Inzwischen klafft der Abgrund wieder fast so tief wie zuvor. Bleibt der politische Rahmen, wie er ist, wird sich, schließt Piketty, das oberste Prozent und vor allem das oberste Promille weiter absetzen.

Laut Piketty ist nicht der gestörte, sondern der funktionierende Markt das Problem

Den Nerv traf er zur rechten Zeit. So nah am Abgrund hatte sich die Weltwirtschaft seit fast 80 Jahren nicht mehr befunden wie beim Crash des Finanzmarktes 2007/ 2008. Plötzlich quälte viele der Zweifel, ob die zutage getretene Verantwortungslosigkeit kein bloßer Exzess von Investmentbankern war, sondern die Konsequenz fortgeschrittener Ertragslogik. "Die Finanzkrise", so der Zeithistoriker Ian Kershaw, "hat das Vertrauen in die internationale Wirtschaftsordnung tief erschüttert." Man fragte wieder nach der Beherrschbarkeit des Kapitalismus, nach seiner Legitimität.

Auch zur Ungleichheit erteilte der Crash seine Lektion, denn die meisten Vermögenden standen bald danach wieder so glänzend da wie vorher, während unzählige Kleinanleger und Geringverdiener noch lange mit schweren Einbußen zu kämpfen hatten, viele bis heute. "Gewinner und Verlierer wurden brutal aussortiert", resümierte die Soziologin Saskia Sassen. Ungerührt teilte der Markt die finanziellen Post-Crash-Prämien vor allem denen zu, die auch zuvor im Vorteil waren.

Pikettys Buch liest sich wie das Skript zu dieser unempfindlichen Ungleichheitsordnung. Ungleichheit, darauf läuft seine Grundthese hinaus, ist nicht die Folge von Marktprozessen, die aus dem Ruder laufen, sondern die Regelfolge. Nicht der gestörte, der funktionierende Markt ist das Problem. Zu der Erschütterung, die Kershaw und so viele andere empfinden, passt diese Erkenntnis perfekt.

Ein weiterer nicht zu unterschätzender Effekt kommt hinzu, nicht zuletzt dank Pikettys sensationellem Erfolg, der Effekt nämlich, dass die politische Ökonomie, die unter orthodoxen Ökonomen als toter Hund galt, wieder ernster genommen wird. Zwar bleibt auch Pikettys Buch noch ganz den Modellen der neoklassischen Makroökonomie verhaftet. Aber wie ein Leitmotiv zieht sich die Mahnung durch die Seiten, dass Ungleichheit nicht zu erklären sei ohne ihren politischen Kontext. In der Tat, selten hat ein Werk mit dem Eingeständnis seines Mangels ein so konstruktives Echo hervorgerufen.

Kein Buch veranschaulicht dies im Moment besser als der Sammelband der amerikanischen Ökonomen Heather Boushey, J. Bradford DeLong und Marshall Steinbaum, der unter dem Titel "After Piketty - The Agenda for Economics and Inequality" im Mai bei Harvard University Press erscheinen wird. Wer künftig auf dem Gebiet mitreden will, darf ihn nicht versäumen.

Schon gar nicht den einleitenden Aufsatz von Robert M. Solow. Trotz seines Alters von über 90 Jahren ließ es sich der Nobelpreisträger und große Doyen der Wachstumstheorie nicht nehmen, dem jungen Kollegen einen Kranz zu flechten. So klar, wie er Pikettys Thesen erklärt, las man es von keinem seines Fachs. Überzeugt, dass der Franzose die "rich-get-richer-dynamic" zutreffend beschreibt, befürchtet er Schlimmes: "Sollte sich das Eigentum an Vermögen im Rest des 21. Jahrhunderts tatsächlich noch stärker konzentrieren, ist der Ausblick trostlos, es sei denn, man hat eine Vorliebe für Oligarchie."

Fast alle Texte im Band teilen die Prämisse, dass Kapital keine Summe von Gütern mit dem Potenzial zur Wertschöpfung ist, sondern ein sozioökonomischer Prozess. Das ist nur scheinbar trivial. In diesen Prozess gehen sozial vorgeprägte Mentalitäten (Egoismus, Erfindungsgabe, Teamfähigkeit, operatives Denken) ebenso ein wie das politische Regime, das Eigentumsrechte definiert, Regeln aufstellt, Infrastrukturen schafft, für Bildung sorgt und vor allem auch für Systemvertrauen ("Investitionsklima"). Auf Dauer kann der Markt Ungleichheit nur produzieren, wenn dieses gesellschaftliche Kräfte- und Normenumfeld diese mitverursacht und mitträgt.

Der Kreislauf ist stets derselbe: Zunächst wachsen mit erhöhter Wirtschaftsmacht der Anleger auch ihre ökonomischen Möglichkeiten für neue profitable Investitionen. Mit den wachsenden wirtschaftlichen Möglichkeiten nimmt auch die soziale und politische Einflussmacht zu, die ihrerseits wieder Gewinnchancen verbessert. Die Rückkopplung setzt ein.

Dieser Fähigkeit der Kapitaleigner, ein begünstigendes gesellschaftliches Umfeld zu organisieren, steht keine vergleichbare politische Organisations- und Verhandlungsmacht der Arbeitskraftbesitzer mehr gegenüber. Geschwächt wird ihr Einfluss nicht nur wegen schwindender Gewerkschaftsmacht, sondern vor allem wegen der Zersplitterung ehemaliger Belegschaftskollektive durch Auslagerung von Arbeitsplätzen oder Degradierung zur Leiharbeit. Wenn überhaupt, dann setzt diese Atomisierung der Arbeitskraftbesitzer allenfalls eine negative, entsolidarisierende Rückkopplung in Gang.

Schon diese kleine Skizze illustriert die asymmetrische Dynamik zwischen den beiden Seiten. Das schlichte Bild, dass die Kapitalbesitzer sich politischen Einfluss "kaufen", bleibt weit dahinter zurück, auch wenn das natürlich passiert (zum Beispiel werden 25 Prozent aller Spenden für politische Kampagnen in den USA vom hundertsten Teil eines Prozents der Bevölkerung aufgebracht).

Entscheidend ist, dass das politische System inzwischen selbst sensibel, wenn nicht willfährig geworden ist für Investitionsinteressen. "Structure vs. struggle" heißt heute die Devise, kein Klassenkampf mehr, sondern marktkonforme politische Strukturen. Für die "rich-get-richer-dynamic" ist das eine hinreichende Bedingung.

In vielen Ländern hat sich das so eingespielt, dass es die nationale Politik ist, die das international operierende Kapital umwerben muss. Nicht nur Irland, Luxemburg oder die Niederlande, sondern so gut wie alle Staaten biedern sich den Anlegern an wie Schönheiten beim Casting, möglichst schlank, aber mit attraktiven Investitionsanreizen. Der Wettlauf um die niedrigsten Steuern auf Kapitalerträge zwischen den Industrienationen sagt alles.

Im Grundsatz ist das alles nicht neu, doch die Autoren bauen es mit empirischen Analysen eindrucksvoll aus. Mit der Internationalisierung hat es aber eine weitere Bewandtnis. In einem Highlight des Bandes beschreibt der an der London School of Economy lehrende Gareth A. Jones, wie sich Kapitalbesitzer, seien es Holdings oder auch private Besitzer, den nationalstaatlichen Gesetzen entziehen, und dadurch die Ungleichheit erst recht steigern.

Auch hier rennt jeder spätestens seit den Panama Papers oder der instruktiven Studie von Gabriel Zucman ("Steueroasen", 2014) nur noch offene Türen ein - denkt man. Doch Jones' Arbeit reicht über die fiskalische Dimension hinaus. Steuerparadiese bilden nur einen Teil einer globalen Sondersphäre, zu der alle Freihandelszonen und sonstige exterritoriale Speicher- und Umschlagsplätze gehören, aber auch alle Orte inmitten der Nationalstaaten, die anonymisierte Identitäten zulassen. Diese Sphäre stellt für das Management von Kapitalbesitz ab einer bestimmten Größenordnung extralegale Räume zur Verfügung, die für staatliche Behörden uneinsehbar und unkontrollierbar sind.

In vielen solcher Exklaven lässt sich alles anlegen und mit allem handeln, was das Licht amtlicher Prüfungen oder Bilanzen scheut, dubiose Finanztitel, Kunstwerke oder undeklarierte Waren aller Art, von Drogen, Waffen oder Geldwäsche gar nicht zu reden. Nicht dass die Gegenstände dort physisch gehandelt werden müssten, die (oft nur virtuelle) Lokalisierung der Transaktion reicht. Jones nennt ihre mobilen Akteure "non-doms", Nicht-Ansässige.

Schadet der Demokratie der Einfluss der Vermögenden mehr als ihre Abwesenheit?

Als in den Neunzigerjahren Kritiker wie Christopher Lasch jener globalen Schicht, die ihr Vermögen im großen Stil von staatlichen Zugriffen abkoppelt, "Macht ohne Verantwortung" vorwarfen, glich das noch Moralpredigertum. Inzwischen zeichnet die empirische Forschung ein sehr viel konkreteres Bild. Vor allem hat seither die abgeschirmte Sphäre wegen des hegemonial gewordenen Finanzmarkts, der hier beträchtliche Geldströme durchschleust, enorm an Bedeutung hinzugewonnen.

Dass krasse Ungleichheit die Demokratie belastet, bezweifelt kein Autor des Bandes. Nun lässt sich streiten, ob der Schaden für die Demokratie größer ist, wenn Vermögende ihren überproportionalen Einfluss innerhalb des politischen Systems geltend machen, oder wenn sie ihr Vermögen der Demokratie gänzlich vorenthalten. Nach Jones ist der "modus operandi" der rechtsfreien Zonen "Geheimhaltung und Abwesenheit von Demokratie". Das war es eigentlich nicht, was Optimisten mit "post-nationaler" Konstellation meinten. Denn hier wird staatsbürgerliches Ethos nicht transnational oder kosmopolitisch erweitert in Richtung weltbürgerlicher Vision, sondern verachtet und abgetan.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Von den vielfältigen Erkenntnissen, die der Band liefert, sind dies nur ein paar zentrale Punkte, abgesehen davon, dass auch die traditionelle makroökonomische Analyse Pikettys keineswegs zu kurz kommt. Was dem Buch bei allem Inhaltsreichtum noch gut getan hätte, wäre ein Beitrag von Daron Acemoglu und James A. Robinson, deren gemeinsame Untersuchungen zur Abhängigkeit des Kapitalismus von politischen und ökonomischen Institutionen berühmt sind, und die nicht zufällig zu Pikettys schärfsten Kritikern zählen. Aber man kann nicht alles haben.

© SZ vom 28.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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