Steuern und Moral:Die Steuer ist ein Preis der Freiheit

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Aktivisten fordern nach den Panama Papers in Berlin Aufklärung. (Foto: Getty Images)

Steueroasen mögen rechtlich legal sein. Wer sie nutzt, handelt aber unmoralisch - und folgt einer asozialen, libertären Idee.

Von Andreas Zielcke

Selbst wenn die steuerlichen Manöver legal sind, die die Paradise Papers aufdecken, seien sie dennoch illegitim. So lautet der Hauptvorwurf gegen die Wohlhabenden und die Unternehmen, die ihre Steuerlast mithilfe von Steueroasen drastisch reduzieren. Was ist unter "illegitim" zu verstehen?

Um eines klarzustellen: Die Paradise Papers haben ebenso wie zuvor die Panama Papers oder Lux Leaks jede Menge Machenschaften ans Tageslicht gebracht, die im Zweifel sehr wohl Steuergesetze verletzen, also illegal sind. In diesen Fällen erübrigt sich die Frage der Illegitimität. Welche Vorsicht angebracht ist, das Etikett "legal" vorschnell anzuheften, illustriert die steuerliche "Optimierung" von Apple in Irland. Während Dublin und das US-Unternehmen dessen irische Steuerersparnis von insgesamt 13 Milliarden Euro für rechtmäßig halten, sieht die EU-Kommission in dieser kolossalen Entlastung eine illegale Beihilfe. Sie verklagt Irland deshalb vor dem Europäischen Gerichtshof. Analog zu Talleyrands Bonmot, Verrat sei eine Frage des Datums, ist Legalität oft eine Frage des Standorts.

Vorausgesetzt aber, wir haben es in vielen Fällen tatsächlich, also nach allen beteiligten Rechtsordnungen, mit legaler Steuerflucht zu tun, dann bleibt die Frage, warum sie dennoch als illegitim gelten kann. Die moralische Intuition ist sich hier sicher, zumal schon auf den ersten Blick drei starke Indizien dafür sprechen.

Friedman: "Steuersenkung unter allen Umständen, unter jedem Vorwand, aus jedem Grund."

Zum einen, weil reales Geschäft und steuerliches Einkommen künstlich auseinandergezogen werden. Kein Steuerflüchtling will wirklich auf der Isle of Man wohnen, kein Konzern seine weltweiten Geschäfte von Bermuda aus dirigieren. Es ist ein fingierter, ein vorgetäuschter Sitz. Zum anderen, weil die Auslagerung in die Steueroasen meist verschleiert wird, sei es durch anonyme Gesellschaften oder Strohleute. Was gibt es zu verbergen und zu tarnen, wenn alles mit rechten Dingen zugeht? Und drittens schließlich, weil Steueroasen de facto nur von reichen Privatpersonen oder multinationalen Unternehmen zu nutzen sind, nicht aber von kleineren Firmen, inländischen Festangestellten oder sozial schwachen Personen. Grenzüberschreitende "Steuergestaltung" ist ein Klassenprivileg.

Doch wie jede Intuition muss sich auch diese überprüfen und begründen lassen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich in der Tat, dass der transnationale Steuerentzug nicht nur das Gerechtigkeitsgefühl provoziert, sondern das freiheitliche Gesellschaftsmodell infrage stellt.

Mit der Freiheit, um die es hier geht, hat es seine besondere Bewandtnis. Denn seit je berufen sich auch Steuerverweigerer und Steuerrebellen auf ihre Freiheit. Letztlich kollidieren zwei gegensätzliche Freiheitsideen, nennen wir sie das "soziale" und das "libertäre" Konzept von Freiheit. Natürlich sind uns die wahren Motive der reichen Steuervermeider und der Apple-, Starbucks- oder Amazon-Geschäftsführer nicht bekannt. Doch bei ihnen ausschließlich Geiz oder Gier zu vermuten, würde zumindest denen unrecht tun, die sich durchaus ideologisch gerechtfertigt sehen.

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Keiner weiß besser als Wirtschaftsliberale, dass jeder, der von Steuern redet, in Wahrheit über die Legitimität von Staatsgewalt redet. Wenn Milton Friedman, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Mitbegründer des Neoliberalismus, betont, dass er "für Steuersenkung ist, unter allen Umständen, unter jedem Vorwand, aus jedem Grund, wann immer es möglich ist", dann nicht, weil er gewissen- oder verantwortungslos ist. Vielmehr sieht er die einzig zulässige Funktion des Staates darin, die Freiheit des Einzelnen zu gewährleisten.

Basis dieser Freiheit ist das "natürliche Recht jedes Individuums auf Eigentum". Folglich muss sich hoheitliche Gewalt darauf beschränken, Privateigentum und Vertragsfreiheit zu garantieren und vor Angriffen und Verbrechen zu schützen. Die meisten wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben sind daher system- und freiheitswidrig, also auch die dafür erhobenen Steuern.

Wie machtvoll diese Denkungsart auch heute ist, offenbaren die Ziele der amerikanischen Republikaner, die Krankenversicherung Obamacare wieder abzuschaffen und "eine der größten Steuersenkungen in der Geschichte Amerikas" (Donald Trump) durchzusetzen.

(Foto: SZ)

Natürlich ist der politische Impetus, Staat und Steuern zu minimieren, nicht auf Amerika beschränkt. Seine gesellschaftliche Energie bezieht er überall auf der Welt vor allem aus der Schicht der finanzstarken Bürger und Unternehmen, die davon am meisten profitieren. Nur geht es, wie gesagt, nicht nur um Profit, es geht um die libertäre Einstellung. Und die sieht weniger die gelegentliche Steuervermeidung (die spricht für faule Ausreden) als vielmehr die systematische Steuerverweigerung als legitim an. Denn in ihren Augen begeht der Staat, der einen Teil des Einkommens oder Vermögens als Steuer beansprucht, eine Enteignung und damit zugleich einen Freiheitsentzug. Steuerverweigerung ist ein Widerstandsrecht verletzter Freiheit.

In den Worten des berühmtesten Philosophen dieser Ansicht, Robert Nozick, der in Harvard lehrte und vor fünfzehn Jahren starb, geht das Argument so: Sklaverei und Zwangsarbeit sind abgeschafft, sie sind aus heutiger Sicht Verbrechen. Aber "Steuer auf Einkommen ist nichts anderes als Zwangsarbeit. Entziehe ich einer Person den Verdienst von x Stunden, ist es dasselbe, wie diese Person zu zwingen, x Stunden für einen Dritten zu arbeiten." Keiner könne etwa einem Müßiggänger auferlegen, er müsse eine Anzahl von Stunden für Bedürftige arbeiten. Doch genau hierzu zwinge der Staat seine Steuerzahler. Zahlt jemand 33 Prozent Einkommensteuer, arbeitet er ein Drittel des Jahres zwangsweise für Bedürftige oder wen auch immer der Staat damit begünstigt.

Die Parole "Steuer ist Diebstahl" ist die vulgarisierte Form dieses philosophischen Arguments. In Deutschland hat sich bekanntlich Peter Sloterdijk über die heutige "Staats-Kleptokratie" ereifert. Doch erst die zugespitzte These, dass der Steuerstaat seine Bürger zur Zwangsarbeit verpflichtet, trifft den wunden Punkt der libertären Weltanschauung. Es geht um die Beraubung von Freiheit. Welche Freiheit also? Der Satz, der einem Verteidiger des Steuerstaats leicht von den Lippen geht, "die Steuer ist ein Preis der Freiheit" (wie es der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof formuliert), leuchtet einem Libertären nicht ein, im Gegenteil, er wird ihn glatt auf den Kopf stellen: "Freiheit ist ein Preis der Steuer" lautet die libertäre Formel, die libertäre Anklage. Freiheit, die hier gemeint ist, ist das höchste Gut, aber eben auch ein höchstpersönliches Gut und geht darum jeglichen Ansprüchen der Allgemeinheit vor. Insbesondere geht sie allen materiellen Ansprüchen der Allgemeinheit vor.

Tatsächlich argumentieren Nozick und alle Gleichgesinnten mit keinem geringeren als Kant: Die Freiheit des Einzelnen dürfe nie Mittel zum Zweck Dritter werden. Das gelte selbst dann, wenn diese Dritten der Rest der Bevölkerung sind. Radikal zu Ende gedacht ist das der Grund, warum Steuerflüchtige, die dieses individualistische Freiheitsverständnis teilen, den Einwand nicht akzeptieren, dass Steuern nun mal gezahlt werden müssen, damit der Staat Polizei und Justiz, aber auch Bildung, Infrastruktur, Daseinsvorsorge und alle anderen öffentlichen Güter finanzieren könne.

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Abgesehen davon glauben echte Marktliberale ohnehin, dass der Markt auch für die Gemeinschaftsgüter besser sorgen könne als der Staat (private Universitäten, private Autobahnen, private Gesundheitsversorgung). Der Allgemeinheit würde also auch ohne den steuerfinanzierten Vorsorgestaat gar nichts entgehen, ließe man dem Markt seinen Lauf. Aber nicht diese Marktgläubigkeit ist das Hauptproblem, sondern ihre libertäre Idee von Freiheit. Es ist eine durch und durch asoziale Idee.

Einer der Ersten, die das erkannt und angeprangert haben, war ausgerechnet Adam Smith, den so viele überzeugte Steuerverweigerer verehren. Würden sie seinen "Wohlstand der Nationen" wirklich aufmerksam durchlesen, stießen sie im fünften Buch auch auf seine Mahnung, die klingt, als hätte er bereits vor 200 Jahren den heutigen Missbrauch der liberalen Lehre vorausgeahnt: "Jede Steuer ist für den, der sie zahlt, ein Kennzeichen, nicht der Sklaverei, sondern der Freiheit." Bündiger lässt sich der Gegensatz zur libertären Vorstellung von Freiheit kaum darstellen. Wenn Libertäre Steuern als Zwangsarbeit und Freiheitsentzug begreifen, meinen sie mit Freiheit ein schlichtes Nullsummenspiel: Was dein Freiheitsgewinn ist, ist mein Freiheitsverlust.

Begreift man Steuern aber mit Adam Smith (oder mit so gut wie jedem Gesellschaftstheoretiker seit Aristoteles) als Bedingung der Freiheit, dann meint Freiheit ein soziales Verhältnis, in dem die Freiheit des einen die Freiheit des anderen überhaupt erst ermöglicht und fördert. Man findet Freiheit nicht draußen in der Natur vor wie Edelsteine, die jeder gerne haben möchte. Sie ist ein Kunstprodukt, das nur eine Gemeinschaft kreieren kann, in der sich alle untereinander als Freie anerkennen. Und zwar so verbindlich anerkennen, dass sie auch - nicht zuletzt vermittels Steuern - für den Erhalt und den Ausbau ihrer Freiheit füreinander einstehen.

Der idealtypische Staat definiert erst, was ins Privateigentum fällt und was ins öffentliche Vermögen

Was nützt mir die nullsummenfixierte, die rein negative Freiheit, wenn ich allein in der Wüste bin und verdurste? Keiner nimmt mir mein Eigentum weg, ich zahle keine Abgaben, keiner schreibt mir was vor, eigentlich die optimale libertäre Situation: frei von jedem Zwang Dritter. "Wüste" ist hier zugleich das Sinnbild für das destruktive Ideal der Vereinzelung, die keine Sozialität kennt und darum auch keine positive Freiheitsgestaltung.

Doch nur als gesellige Freie können sich die Individuen wechselseitig zu immer mehr Handlungsoptionen hochschaukeln, zu immer leistungsfähigeren Institutionen, zu immer ertragreicheren Rückkopplungen, zu immer präziseren Korrekturen, zu immer verantwortungsvolleren Interaktionen (und natürlich auch zu immer größeren Risiken und Fehlern). Jede Kultur im emphatischen Sinn kann nur als Produkt von sozialer, nicht von negativer Freiheit entstehen.

Steuern sind deshalb nicht nur der Preis oder die Kosten der Freiheit, sondern in der Tat, wie es Adam Smith sieht, ein Ausdruck freiheitlicher Verbindung. 2002 erschien von den beiden Philosophen Liam Murphy und Thomas Nagel das Buch "The Myth of Ownership - Taxes and Justice" (Oxford University Press), das vielleicht noch immer die beste Antwort auf die radikale und in Amerika sehr populäre Steuerkritik Robert Nozicks darstellt.

Ihr zentraler Punkt besteht darin, dass Eigentum und Freiheit sinnvollerweise nicht jenseits von Verfassung und auch nicht jenseits von Steuerregeln gedacht werden können. Es sind Begriffe, die ihre Fassung, ihre Reichweite und ihre Geltung nur durch konstitutionelle Garantien und Ausgestaltung erhalten.

Selbstverständlich richten Gesetzgeber auch viel Unsinn und Unheil an, gerade auch im Steuerrecht. Doch der idealtypische Gesetzgeber, der alle Steuerzahler und alle Nichtsteuerzahler zu vertreten hat, nimmt mit seiner demokratisch beschlossenen Steuer kein Eigentum weg, sondern definiert überhaupt erst, was von den wirtschaftlichen Erträgen endgültig ins Privateigentum fällt und was ins öffentliche Vermögen gehört. Wir können uns im "eigenen Leben" drehen und wenden, wie immer wir wollen, doch am Ende sind wir als Freie und als Eigentümer immer auch Schöpfer und Geschöpfe der Geselligkeit.

© SZ vom 16.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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