Zwar gibt Hitlers Rhetorik die Wahrheit als appellativen Wert nicht vollständig preis; aber in der Konsequenz seiner eigenen Argumentationsweise handelt es sich dabei um eine nachgeordnete, aus der Macht der eigenen Rede abgeleitete, allein durch den Erfolg ihrer puren Behauptung zustande kommende Größe.
Der Agitator, wie Hitler ihn darstellt, steht in unmittelbarer Verbindung mit den Gefühlen der Masse, und sucht jede ihrer Aufwallungen zu absorbieren. Man kann sich gut vorstellen, wie der Hitler der frühen Münchner Jahre seine weltanschaulichen Leitsätze rednerisch auf ihren Effekt hin testete, bis sie ihm selbst schließlich als geglaubte Wahrheit des Volkes erschienen.
Andererseits verlangt er von seiner Partei, sie dürfe sich der öffentlichen Meinung nicht unterwerfen, sondern habe über sie zu gebieten. "Nicht Knecht soll sie der Masse sein, sondern Herr!" heißt es in der für Hitler typischen sexuellen Symbolik.
Dementsprechend muss der Parteiredner sein Auditorium niederzwingen, aber eben mit den Mitteln einer herrischen Volkstümlichkeit, die sich an den Charakter des "feminin" veranlagten Volkes anschmiegt - eines Volkes, das noch dazu vor "Verführern" in den Reihen des politischen Feindes bewahrt werden muss. Liebe, Unterwerfung und Feindschaft sind in diesem Bezugssystem die entscheidenden Koordinaten; es ist auf die Steigerung von Affekten hin angelegt.
Es erzeugt, solange es sich aufbaut, ein geschlossenes Energiefeld, das alle rationalen Einwendungen Außenstehender von sich ableitet .
Offene Geheimnisse der Machttechnik
Häufig wurde behauptet, Hitlers "Mein Kampf" sei trotz der massenhaften Verbreitung in Schulen, Bibliotheken und als obligate Gabe auf Standesämtern ein ungelesenes, weil unleserliches Buch geblieben. Das ist insofern bemerkenswert, als Hitler sich im Vorwort "nicht an Fremde, sondern an diejenigen Anhänger der Bewegung" wendet, "die mit dem Herzen ihr gehören".
Fünfhundert Seiten später, im zweiten Band, breitet er sich darüber aus, dass "die Masse der Menschen an sich faul ist", von Büchern überfordert sei und ohnehin nur über eine sehr beschränkte Aufmerksamkeitsspanne verfüge. Wer ihm bis hierhin gefolgt ist, darf sich also schon zu den Eingeweihten zählen, deren Verständigung auf Kosten Dritter geht.
Hannah Arendt hat aufgezeigt, dass totalitäre Regimes nach dem Modell von Geheimbünden organisiert sind und mit einem fein abgestuften System der Teilhabe operieren. Eine Besonderheit der NS-Ideologie aber, soweit sie in Hitlers Kampfschrift formuliert ist, bestand darin, nicht nur ihre völkische Schauseite, sondern in einem erstaunlichen Ausmaß auch die Arkana ihrer Machttechnik jedem, der zu lesen versteht, unverhüllt vor Augen zu führen. Das widerlegt die verbreitete Annahme, dass Ideologien nur funktionieren, wenn sie die Art und Weise ihrer Gemachtheit im Verborgenen halten.
Für Interessierte an der Machart der Macht
Der Text von "Mein Kampf" ist so angelegt, dass man ihn auf zwei Niveaus lesen kann. Er breitet sich seitenlang über marxistische Intriganz und jüdisches Schmarotzertum aus und bedient so das primitiv-ideologische Leserbedürfnis, auf das sich Julius Streichers Zeitschrift Der Stürmer einstellen wird. Insoweit liest sich "Mein Kampf" als Zeugnis blinden Rassenwahns.
Auf einer zweiten Ebene aber geht es weniger um die ideologische Botschaft selbst als um die Mittel, sie an den Mann zu bringen. Viel spricht dafür, dass Hitler vorrangig eine an der Machart von Macht interessierte Gefolgschaft ansprechen wollte. Das geht schon aus der Wahl des Mediums Buch hervor, von dem er meint, dass es nur einen eingeschränkten Kreis der Gleichgesinnten erreicht.