Wirkung von Hitlers "Mein Kampf":Lust am Machtwort

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Eine vom Autor signierte Ausgabe der Hetzschrift auf einer Auktion in London (Foto: Carl De Souza/AFP)

Langweilig, unoriginell, phrasenhaft und alles in allem lachhaft: So bewerteten schon Zeitgenossen Hitlers Hetzschrift "Mein Kampf". Und dennoch entfaltete das Buch eine Faszinationskraft, die auf so unheilvolle Weise wirkmächtig wurde. Wie Hitler mit "Mein Kampf" die Eliten für sich einnehmen konnte.

Ein Gastbeitrag von Albrecht Koschorke

Um das Für und Wider der Publikation von "Mein Kampf" hat es immer wieder heftige Debatten gegeben. Dabei passen die öffentlich bekundeten Leseerfahrungen mit diesem Buch nicht recht zu der Sorge vor einer bis heute andauernden ideologischen Ansteckungsgefahr. Übereinstimmend vermerken diejenigen unter den akademischen Lesern, die sich überhaupt die Mühe einer Lektüre von Hitlers Elaborat machen, wie langweilig, unoriginell, phrasenhaft, stilistisch missraten, peinlich-geifernd und alles in allem lachhaft sie das Buch finden.

Diese Reaktion gab es, wie in Othmar Plöckingers Standardwerk zur Geschichte von "Mein Kampf" dokumentiert, schon in den 1920er-Jahren. Sie bot damals Anlass zu der fatalen Zuversicht, dass ein solcher Schreiber keine Zukunft habe. Aber worin könnte dann die Faszinationskraft von Hitlers Hetzschrift bestehen, die auf so unheilvolle Weise wirkmächtig wurde?

Hitler selbst hat keinen Hehl daraus gemacht, dass es ihm nicht darum zu tun war, kritische Akademiker zu überzeugen. Im Gegenteil, er gibt sie derselben Geringschätzung preis, mit der diese Gruppe ihn, den fanatisierten Emporkömmling, ihrerseits strafte. Propaganda, schreibt er, müsse ihr geistiges Niveau auf die geringe Aufnahmefähigkeit der Masse einstellen. "Je bescheidener dann ihr wissenschaftlicher Ballast ist, und je mehr sie ausschließlich auf das Fühlen der Masse Rücksicht nimmt, umso durchschlagender der Erfolg. Dieser aber ist der beste Beweis für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Propaganda und nicht die gelungene Befriedigung einiger Gelehrter oder ästhetischer Jünglinge."

Verachtung der "wissenschaftlichen Intelligenz"

Mit einem Handstreich erklärt Hitler so alle Leitwerte einer regelgeleiteten intellektuellen Auseinandersetzung - sachliche Überprüfbarkeit, Differenziertheit, Niveau - für irrelevant. Er teilt diese Geste mit der bunten Szene völkischer Sektierer um 1900, aus deren Schriften er schöpfte und die eine autodidaktisch-megalomane Gegenwelt zur Welt der professionellen Akademiker formte.

Auf Zustimmung durch die verachtete "wissenschaftliche Intelligenz" kam es ihnen nicht an. So machen sie ihre selbstgebastelten Ideengebäude gegen den Einspruch etablierter Experten von außen unangreifbar und festigten zugleich die Bindung nach innen.

Bei größerer Verbreitung lässt sich derselbe Mechanismus in den Dienst einer großformatigen politischen Ideologie stellen. Denn wenn sich die "Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Propaganda" allein an ihrem "Erfolg" bemisst, dann schließt sie sich in eine Kreisfigur der Selbstbewahrheitung ein: Die Massen glauben ihr, weil sie sich als unbedingt wahr ausgibt, und sie ist wahr, weil die Massen sie glauben.

Höhnisches Hochgefühl

Hier kommt ein Faktor ins Spiel, den diejenigen unterschätzen, die in Demagogie nichts anderes am Werk sehen als Irrtum, Blindheit oder Wahn und ihr deshalb mit den Mitteln des vernünftigen Einspruchs zu Leibe zu rücken versuchen. Dieser aufklärerischen Zuversicht ist entgegenzuhalten, dass der Demagoge samt seinen Gefolgsleuten gewöhnlich sehr genau weiß, was er tut. Er verbreitet seine Behauptungen nicht, obwohl er damit bei allen Vernünftigen Anstoß erregt, sondern weil er sicher sein kann, sie auf diese Weise zu provozieren.

Die reflexhafte Empörung, die er auslöst, verschafft ihm eine Art von höhnischem Hochgefühl. Propaganda, Hitler spricht das in "Mein Kampf" ganz offen aus, soll "eine allgemeine Überzeugung von der Wirklichkeit einer Tatsache" herbeiführen und muss alle weitere Erörterung unterbinden.

Zwar gibt Hitlers Rhetorik die Wahrheit als appellativen Wert nicht vollständig preis; aber in der Konsequenz seiner eigenen Argumentationsweise handelt es sich dabei um eine nachgeordnete, aus der Macht der eigenen Rede abgeleitete, allein durch den Erfolg ihrer puren Behauptung zustande kommende Größe.

Der Agitator, wie Hitler ihn darstellt, steht in unmittelbarer Verbindung mit den Gefühlen der Masse, und sucht jede ihrer Aufwallungen zu absorbieren. Man kann sich gut vorstellen, wie der Hitler der frühen Münchner Jahre seine weltanschaulichen Leitsätze rednerisch auf ihren Effekt hin testete, bis sie ihm selbst schließlich als geglaubte Wahrheit des Volkes erschienen.

Andererseits verlangt er von seiner Partei, sie dürfe sich der öffentlichen Meinung nicht unterwerfen, sondern habe über sie zu gebieten. "Nicht Knecht soll sie der Masse sein, sondern Herr!" heißt es in der für Hitler typischen sexuellen Symbolik.

Dementsprechend muss der Parteiredner sein Auditorium niederzwingen, aber eben mit den Mitteln einer herrischen Volkstümlichkeit, die sich an den Charakter des "feminin" veranlagten Volkes anschmiegt - eines Volkes, das noch dazu vor "Verführern" in den Reihen des politischen Feindes bewahrt werden muss. Liebe, Unterwerfung und Feindschaft sind in diesem Bezugssystem die entscheidenden Koordinaten; es ist auf die Steigerung von Affekten hin angelegt.

Es erzeugt, solange es sich aufbaut, ein geschlossenes Energiefeld, das alle rationalen Einwendungen Außenstehender von sich ableitet .

Offene Geheimnisse der Machttechnik

Häufig wurde behauptet, Hitlers "Mein Kampf" sei trotz der massenhaften Verbreitung in Schulen, Bibliotheken und als obligate Gabe auf Standesämtern ein ungelesenes, weil unleserliches Buch geblieben. Das ist insofern bemerkenswert, als Hitler sich im Vorwort "nicht an Fremde, sondern an diejenigen Anhänger der Bewegung" wendet, "die mit dem Herzen ihr gehören".

Fünfhundert Seiten später, im zweiten Band, breitet er sich darüber aus, dass "die Masse der Menschen an sich faul ist", von Büchern überfordert sei und ohnehin nur über eine sehr beschränkte Aufmerksamkeitsspanne verfüge. Wer ihm bis hierhin gefolgt ist, darf sich also schon zu den Eingeweihten zählen, deren Verständigung auf Kosten Dritter geht.

Hannah Arendt hat aufgezeigt, dass totalitäre Regimes nach dem Modell von Geheimbünden organisiert sind und mit einem fein abgestuften System der Teilhabe operieren. Eine Besonderheit der NS-Ideologie aber, soweit sie in Hitlers Kampfschrift formuliert ist, bestand darin, nicht nur ihre völkische Schauseite, sondern in einem erstaunlichen Ausmaß auch die Arkana ihrer Machttechnik jedem, der zu lesen versteht, unverhüllt vor Augen zu führen. Das widerlegt die verbreitete Annahme, dass Ideologien nur funktionieren, wenn sie die Art und Weise ihrer Gemachtheit im Verborgenen halten.

Für Interessierte an der Machart der Macht

Der Text von "Mein Kampf" ist so angelegt, dass man ihn auf zwei Niveaus lesen kann. Er breitet sich seitenlang über marxistische Intriganz und jüdisches Schmarotzertum aus und bedient so das primitiv-ideologische Leserbedürfnis, auf das sich Julius Streichers Zeitschrift Der Stürmer einstellen wird. Insoweit liest sich "Mein Kampf" als Zeugnis blinden Rassenwahns.

Auf einer zweiten Ebene aber geht es weniger um die ideologische Botschaft selbst als um die Mittel, sie an den Mann zu bringen. Viel spricht dafür, dass Hitler vorrangig eine an der Machart von Macht interessierte Gefolgschaft ansprechen wollte. Das geht schon aus der Wahl des Mediums Buch hervor, von dem er meint, dass es nur einen eingeschränkten Kreis der Gleichgesinnten erreicht.

Die eigentliche Propaganda, daran lässt Hitler keinen Zweifel, findet nicht im Medium der Schrift statt, sondern in der agitatorischen Rede. Nur der Redner habe die Reaktionen seines Publikums unmittelbar vor Augen und könne seine Rhetorik entsprechend anpassen, "bis endlich selbst die letzte Gruppe einer Opposition schon durch ihre Haltung und ihr Mienenspiel ihn die Kapitulation vor seiner Beweisführung erkennen läßt"; nur durch Rede, nicht durch schriftliche Belehrung ließen sich "Widerstände des Gefühls" überwinden.

Mit seinen Bemerkungen über die ihrem kollektiven Charakter nach weibliche, durch geringe "Aufnahmefähigkeit" gekennzeichnete, notorisch vergessliche Masse zieht Hitler diejenigen "Mein Kampf"-Leser, die über die autobiografischen Anekdoten der Anfangskapitel hinaus weiterlesen, in ein exklusives Einverständnis unter Männern, die sich einer politischen Avantgarde zurechnen, hinein.

Sein Angebot besteht in dem Reiz, hinter die Kulissen des Herrschaftswissens zu treten und mit dem Privileg des Insiders den Prozess der schöpferischen Verfertigung einer Ideologie mitzuverfolgen.

Hitlers Text spielt diesen Reiz mit der finsteren Härte des Dezisionisten aus. Alles kommt auf die Entschiedenheit an, mit der man seinen Glauben verficht, und das macht diesen selbst zu einer Angelegenheit der Entscheidung.

Sich entschlossen und unbeirrbar zu zeigen hat zwei Seiten, eine abschreckende und eine einschwörende. Dass sein Radikalismus polarisierend wirkt, dass er - aus seiner Sicht - die Spreu vom Weizen trennt, war Hitler vollkommen bewusst und Teil seines Kalküls. Dies heißt jedoch nicht, dass der Kern der Anhängerschaft ihrem Führer rein aus Überzeugung treu wäre.

Für den internen Gebrauch

Überzeugungsgründe stellen eher die Modelliermasse dar, während die zugrunde liegende organisatorische Matrix sich am Grad des Willens zur Entschiedenheit ordnet. Es ist weniger ein blinder Fanatismus als die Lust am Machtwort, an der Hitler den inneren Kreis seiner Parteigänger teilhaben lässt: an einer Ermächtigung im rhetorischen wie im politischen Register, die sich zwar aller herkömmlichen Legitimationsmittel bedient, aber ihre heimlichste, tiefste Freude an ihrer puren sprachlichen Gewaltsamkeit hat.

Seinem Tenor nach scheint Hitlers Buch von seinen Münchner Saalreden kaum abzuweichen. Aber die Masse derjenigen, die in straff geführten Parteiversammlungen samt Schlägereien ein Gemeinschaftserlebnis und eine weltanschauliche Heimat suchen, spricht "Mein Kampf" gar nicht unmittelbar an; sie kommen nur als Objekt der Propaganda vor.

Stattdessen werden Strategien der Inszenierung verhandelt, kombiniert mit oft kleinteiligen organisatorischen Anweisungen, die erkennbar für den internen Gebrauch bestimmt sind. Der eigentliche Appeal dieser Passagen aber ergibt sich aus dem unverhohlenen Triumphgefühl darüber, wie sehr man andere - Rote, Bürgerliche - durch rücksichtslose Anwendung von Gewalt beeindrucken kann.

Lustvoll-sadistisches "Na warte"

Die Wir-Gruppe, die Hitlers Schilderungen erzeugen, schließt all jene ein, auf die es erhebend wirkt, durch die Verhöhnung blutig geschlagener Gegner Widerspruch gleich welcher Art ein für allemal zu unterbinden. Der Kitzel, den "Mein Kampf" den kühleren unter seinen Lesern darbietet, besteht nicht in der Sache einer bestimmten Überzeugung, sondern in der rabiaten Aufkündigung des Dialogs.

Es ist dann gleichgültig, ob man dem Inhalt von Hitlers Tiraden im Innersten zustimmt oder nicht. Man konnte sich sogar, wie manche intellektuellere Köpfe unter den Nazi-Eliten, über Hitlers primitiven Judenhass mokieren oder hinter vorgehaltener Hand seinen gepressten Redestil belächeln und doch den Reflex empfinden, jede respektlose Äußerung Dritter unnachsichtig zu verfolgen.

Von "Mein Kampf" geht eine Sogkraft der Drohung aus, auf Widerspruch mit einem lustvoll-sadistischen "Na warte" zu reagieren, dessen vergemeinschaftende Kraft auf einer anderen Ebene wirkt als ideologische Gefolgschaft im engeren Sinn.

Eindruck eines geschlossenen Gedankengebäudes

Damit soll nicht in Abrede gestellt sein, dass Hitlers "Mein Kampf" ein in extremer Weise ideologisches Pamphlet ist. Im Kapitel 'Volk und Rasse' ist nicht nur das ganze Arsenal der Hetze gegen die Juden enthalten, sondern das Programm ihrer Elimination schon angelegt.

Da Hitler seinen Judenhass eng mit der Frontstellung gegen den Marxismus verknüpft und diese beiden Kernbereiche seines Programms in ein Panorama mit welthistorischen Dimensionen einfügt, entsteht der Eindruck eines geschlossenen Gedankengebäudes, das im Brustton tiefster Überzeugung dargestellt wird.

Aber neben all den propagandistischen Behauptungen läuft ein zweites Signalement mit, das auch jene "innerste Schicht der totalitären Hierarchie" erreicht haben könnte, die nach den Worten von Hannah Arendt durch "Freiheit vom Inhalt der eigenen Ideologie" gekennzeichnet ist.

Versprechen wiedererrungener Ehre

Die jungen Juristen, Sozialingenieure und Großraumplaner, die im späteren NS-System an die Schalthebel der Macht gelangten, haben nicht zu den begeisterten Lesern von "Mein Kampf" gehört. Sie fanden aber im Rahmen des von Hitler entworfenen Programms großen Spielraum für ihre eigenen radikalen Visionen - mit der Konsequenz, dass ihnen das NS-System zu steilen Karrieren verhalf. Für diese Gruppe war der Nationalsozialismus ein Instrument, keine Religion.

"Mein Kampf" versorgt eine durch Krieg und Niederlage traumatisierte Nation mit dem Versprechen wiedererrungener Ehre und neuer Größe; es erlaubt, Ambivalenzen zu vereindeutigen und als ungehemmten Hass auszuagieren. Dies alles befriedigt den Wunsch nach "Stimmigkeit einer fiktiven Welt" (Hannah Arendt).

Aber in seinen mitklingenden Obertönen kommuniziert "Mein Kampf" noch eine andere Lust, die den leeren Aktionswert von Worten genießt: die Faszination einer Macht, die ihren einzigen Grund in ihrer Ermächtigung hat und sich aus dem Nichts selbst erschafft.

Man hat diese Nachbarschaft mit dem Nichts als Nihilismus gedeutet und aus philosophischen Einflüssen erklärt. Aber sie ist doch eher auf eine Art des Wortgebrauchs zurückzuführen als auf ein Ideensystem: eines Wortgebrauchs, der sich darin gefällt, kraft seines puren sprachlichen Vollzugs über Sein und Nichtsein, Leben und Tod zu entscheiden.

Albrecht Koschorke ist Literaturwissenschaftler an der Universität Konstanz. Eine längere Version dieses Textes wird demnächst als E-Book bei Matthes & Seitz erscheinen.

© SZ vom 13.12.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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