Winter-Tollwood:Schafe und Schablonen

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Circus Oz feiert mit "Model Citizens" Deutschlandpremiere

Von SABINE LEUCHT, München

Diese menschlichen Puppen funktionieren prächtig. Sie bleiben stehen, wie man sie positioniert und tollen harmonisch blau in blau durcheinander, bis ein Fremder buchstäblich auf sie herabfällt. Der hat einen pinkfarbenen Iro, viele Tattoos und - wie man später noch sehen wird - Skills vom Feuerschlucken bis zum Messerwerfen, die eher auf eine Straßenkarriere hindeuten als auf eine propere Nouveau Cirque-Laufbahn. Maskenhaft grinsend, aber blind für den Fremdling, lässt man ihn erst nicht mitmischen und hängt ihn dann mit den Füßen zuoberst auf.

Nach 24 Jahren ist der australische Circus Oz zurück auf Tollwood. Damals kam er als Vorbote einer Zirkuskunst der Zukunft. Jetzt kommt er nach drei Tollwood-Wintern mit dem kanadischen Cirque Éloize: Einer Zaubertruppe, die artistischen Extremsport mit Inhalt, musikalischer Dramaturgie und stupender Choreografie zu koordinieren versteht und genau weiß, dass der Zirkus mit seinen ureigenen Mitteln viel über Zwischenmenschliches erzählen kann, aber nicht das Medium ist, das mir die Welt erklärt. Da haben es die Australier jetzt doppelt schwer - weil sie nach dem Éloize und mit Schablonen kommen. In "Model Citizens" besteht schon die Kulisse aus einem vorgestanzten Modellbürgerbausatz aus identischen Pressspan-Shirts und Hosen. Hier wird offenbar der Nullachtfünfzehn-Konforme gefertigt, der zunächst auch recht wenig Überraschendes auf die Bühne bringt. Der Integrationsfaden wird nur sporadisch wiederaufgenommen, indem etwa der Drummer der zweiköpfigen Live-Band Toleranz Down Under erklärt: "Wir lieben Vielfalt, aber nur weit weg am Stadtrand." Die Nummern dazwischen ziehen aus ausstatterischen Details wie einer gigantischen Unterhose am Bühnenhimmel, zwei zu einer Riesensicherheitsnadel zusammengefassten Polestangen und dampfenden Bügeleisen-Plateauschuhe meist zu wenig inhaltlichen und akrobatischen Mehrwert. Wirklich schräg ist eine Schaf-Performance mit einem herrlich ordinären weiblichen Individuum, wirklich originell eine Riesenstreichholzschachtel-Jonglage.

Erst nach der Pause wird das Ganze stimmiger, nimmt die Variationsbreite innerhalb einzelner Nummern zu: Fünf starke Frauen mit einer hypnotischen Hand-to-Hand- und Partnerakrobatik, ein bärtiges Mannsbild im Cyr-Reifen und ein androgyner Glatzkopf mit Hula-Hoop-Reifen wirbeln die Geschlechterrollen grandios durcheinander. Schließlich finden in der Lieblingsszene des Regisseurs Rob Tannion die Botschaft des Abends und Akrobatik zueinander: Auf einer horizontal gespannten Strickleiter-Brücke macht jeder, was er kann - und das ist viel! - und alle unterstützen einander.

© SZ vom 26.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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