Süddeutsche Zeitung

Wimmelbuch :Pan, Python und Orkus

Lesezeit: 2 min

Ein großformatiges Such- und Sachbuch für etwas ältere Kinder über die griechische Kultur, deren Helden und Mythen.

Von Michael Stierstorfer

Traditionelle Nacherzählungen von Sagen aus der Welt der alten Griechen und Römer erleben in den letzten Jahren eine Hochphase. Das bezeugen unzählige aktuelle Sagenkompendien wie die großteils bebilderten Neuauflagen der Werke von Gustav Schwab, Dimiter Inkiow oder Rick Riordan. Doch was entsteht, wenn sich ein international renommierter Grafikdesigner aus Warschau, der auch Seidentücher für das Modehaus Hermès kreiert hat, des antiken Kulturgutes annimmt? Auf jeden Fall ein filigran-innovatives Kuriosum, welches sich als gelungener Mix aus Wimmel-, Mitmach- und Sachbuch präsentiert. Denn noch nie ist ein so detailgenaues und zugleich kunstvolles Werk wie dieser großformatige Prachtband erschienen, der seine Leserinnen und Leser nicht nur in die Welt der Mythen, zu Prometheus, Herakles, den Argonauten, Ilias, Odyssee, Sisyphos und Ödipus entführt, sondern ihnen auch die griechische Kultur am Beispiel des Kolosses von Rhodos, der Olympischen Spiele und von Bauwerken wie Privathäusern, Tempeln der Akropolis oder Theatern zeigt.

Jede Doppelseite zu einem der Schwerpunkte besteht aus einem Labyrinth, sodass sich der Leser beim Betrachten der mythologisch motivierten Kartografien und deren Bestiarien stets von Neuem als Theseus einen Weg durch die nicht selten in einer Sackgasse endenden Wege bahnen muss. Hierbei werden kunstvoll der Kaukasus - an den Prometheus zur Strafe für den Feuerraub von den Olympiern geschmiedet wurde -, eine Säulenhalle mit den zwölf Taten des Herakles, das Labyrinth des Minotaurus, oder der sagenumwobene Palast von Knossos auf Kreta als Irrwege inszeniert. Unterwegs tauchen unterschiedlichste Sagengestalten wie "Okeanos, ältester Titan, Gott des Stromes, der die Erde umfließt", auf einer Doppelseite zum Weltbild der alten Griechen auf. Man entdeckt in diesen detailverliebten Wimmelbildern immer wieder etwas Neues. Wer aber jetzt denkt, dass diese auf rot- und schwarzfigurigen Vasen oder Wandmalereien und Mosaiken basierenden Kunstwerke, die aus dem Louvre, dem Vatikan oder dem British Museum stammen, nur als Spielerei gedacht wären, täuscht sich, sie werden eingesetzt, um den Lesern die nahezu unüberblickbare Vielfalt der mythologischen Narrative, Figuren, Settings und Gegenstände vor Augen zu führen. Außerdem findet sich zu jeder thematischen Doppelseite neben der Überschrift ein Hyperlink, der den interessierten Leser an das Ende des Sachbuchs leitet, zu knappen lexikonartigen Artikeln. Ähnlich wie bei der Vernetzung auf bekannten Online-Nachschlageseiten sind die Texte noch zusätzlich untereinander durch Querverweise verbunden. Unter den weiterführenden Infos ragt ein Nachschlageregister mit mehr oder weniger prominenten Fabelwesen der Antike wie Pan, Python oder Orthos, dem weniger bekannten doppelköpfigen Hund des Riesen Geryon, besonders heraus, weil es mit piktogrammähnlichen Bildimpulsen verbunden ist. Dieses filigrane Werk wird jüngere Sagenfans und auch Erwachsene begeister. Es zeichnet sich durch einen hohen kunsthistorischen Wert aufgrund der engen Anlehnung an bekannte Kunstwerke aus der Antike aus und schafft in seiner Gesamtkomposition etwas vollkommen Neues und Wunderbares. Auch die Sachinformationen im Anhang sind gut recherchiert und verharren nicht nur an der Oberfläche. Insgesamt ist ein einzigartiges Kunstwerk entstanden, bei dessen Lektüre der Leser gerne einmal den Faden verliert, um auf Umwegen weitere Details der griechischen Mythologie und Kultur kennen zu lernen. (ab 11 Jahre)

Jan Bajtlik: Ariadnes Faden. Götter, Sagen, Labyrinthe. Aus dem Polnischen von Thomas Weiler. Moritz Verlag, Frankfurt 2019. 72 Seiten, 24 Euro.

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SZ vom 25.10.2019
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