Wim Wenders:"Ich hechle an vorderster Front hinterher"

James Franco (links) und Wim Wenders am Set von "Every Thing Will Be Fine".

Immer schwer beschäftigt: James Franco (links) und Wim Wenders am Set von "Every Thing Will Be Fine".

(Foto: Donata Wenders)

Auch in seinem neuen Film "Every Thing Will Be Fine" geht Wim Wenders neue Wege: Das stille Drama ist in 3D gedreht - ein Format, das für Actionfilme reserviert zu sein schien. Ein Gespräch über die Gnadenlosigkeit der US-Presse, Schrott im Kino und die zunehmende Kostbarkeit der Zeit.

Von Paul Katzenberger

Er steht für das deutsche Autorenkino wie kaum ein zweiter, doch in den vergangenen Jahren trat Wim Wenders vor allem mit gefeierten Dokumentarfilmen in Erscheinung. Nun kommt er wieder mit einem Spielfilm in die Kinos. In "Every Thing Will Be Fine" folgt er dem Schriftsteller Tomas (James Franco) über einen Zeitraum von zwölf Jahren, nachdem der ein Trauma erlebt hat. An einem Winterabend ist ihm der kleine Nicholas mit dem Schlitten unters Auto gerutscht. Tomas trifft keine Schuld an dem tödlichen Unfall, ebenso wenig wie Christopher, der anders als sein Bruder überlebt hat, oder Kate (Charlotte Gainsbourg), die Mutter der beiden. Sie hatte über einem Roman William Faulkners vergessen, die Kinder ins Haus zu rufen.

Tomas fällt in ein tiefes Loch, aus dem er sich durch sein Schreiben rettet. Aber darf er er sich hierfür vom Leid anderer inspirieren lassen? "Every Thing Will Be Fine" erzählt von Schuld und der Suche nach Vergebung, dem Mut, das Leben so anzunehmen, wie es ist, und dem Wert der Mitmenschen für das eigene Leben.

SZ.de: Im Englischen wird das Wort "everything" normalerweise zusammengeschrieben, doch im Titel Ihres neuen Films trennen Sie das Wort in "every" und "thing". Was wollten Sie damit zum Ausdruck bringen? Dass jede einzelne Sache gut wird, und nicht nur unterm Strich?

Wim Wenders: Ganz genau. Wenn man es in zwei Worten schreibt, nimmt man es viel ernster. Alles andere ist nur so pauschal dahingesagt: 'Es wird schon alles gut.' Bei der Schreibweise "every" und "thing", mit zwei Worten, da muss wirklich alles gut werden, jedes Ding.

Wenn ein Kind stirbt, da kann nichts mehr gut werden.

Da haben Sie recht, das kann weder aufgehoben noch aufgewogen werden. An der Vergangenheit kann man ohnehin nichts ändern. Aber an Beziehungen kann man etwas machen und auch an der Einstellung zu den Dingen. Die sind nicht so, wie sie sind, sondern so wie man sie wahrnimmt, verändern sie sich auch. Wie wir wohl wissen, liegt Schönheit im Auge des Betrachters.

Der Ausgangspunkt Ihres Dramas ist ein Unfall, bei dem ein Kind tödlich verunglückt. In Matthias Glasners Drama "Gnade" war das schon vor drei Jahren ein Ansatz, um festgefahrene Einstellungen zu hinterfragen - Glasner tat das durch die Darstellung eines radikalen Aktes der Vergebung. "Every Thing Will Be Fine" handelt auch vom Verzeihen, aber nur am Rande. Geht es darum, Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind?

Das ist ein Thema, doch nicht das Hauptmotiv. Das kommt erst richtig heraus, als Tomas (gespielt von Hauptdarsteller James Franco, Anm. d. Red.) sich mit dem einzigen Menschen wirklich auseinandersetzen muss, der den tragischen Unfall mit ihm erlebt hat, dem Bruder des kleinen Jungen, der damals selber noch ein Kind war. Das übergreifende Thema des Films ist für mich definiert von Martin Buber, für mich ein Held der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Sein Hauptwerk "Ich und Du" beschreibt, dass das "Ich" nur dadurch definiert wird, dass es ein "Du" akzeptiert.

Sie sprechen die Szene an, in der Tomas mit Christopher nach vielen Jahren endlich ernsthaft spricht. Aber braucht Tomas diesen Christopher tatsächlich, um sich selbst zu finden? Er ist doch ein erfolgreicher Schriftsteller, und der von ihm verursachte Unfall inspiriert ihn sogar.

Vielleicht ist das auch seine eigentliche Schuld: dass er diesen Unfall und somit das Leiden anderer zu einem Buch verarbeitet. An dem Unfall selbst gibt ihm ja niemand die Schuld, nicht einmal die Mutter des Kindes, das dabei zu Tode kommt. Aber dieses Buch macht ihn zu einem besseren Schriftsteller! Und erst zwölf Jahre später taucht dieser junge Mann auf und will wissen: "Bin ich das?" Und ist dann dieser Junge vor ihm nicht viel wichtiger als die Literatur, die er aus ihm gemacht hat? Tomas wehrt ihn an, er kann diesen Einbruch von Realität in die abgeschlossene Vergangenheitsbewältigung nicht gebrauchen. Erst als ihm Christoper ins Bett pisst, setzt er sich mit ihm hin und nimmt ihn ernst. Er nimmt ihn schließlich sogar in den Arm und das heißt: "Ab jetzt gehörst du in mein Leben. Du kannst immer aufkreuzen." Das ist für einen, der alles zu Fiktion verarbeitet, ein gewaltiger Schritt.

Warum?

Weil für einen Schriftsteller in besonders hohem Maße gilt, dass er ein Beobachter ist, der möglichst nicht selbst involviert sein will in das, was er beschreibt. "Every Thing Will Be Fine" müsste aber gar nicht notwendigerweise von einem Schriftsteller handeln, es geht überhaupt um den Umgang mit Trauma. Wie lässt man sich auf den anderen ein, der daran beteiligt ist, und mit dessen Leben man nicht unbedingt etwas zu tun haben will? Es ist ja reiner Zufall, dass man plötzlich in dem Leben anderer Menschen drinsteckt.

Sie zeigen Tomas als jemanden, der sehr rational getaktet ist. Diese Vernunft scheinen Sie im Film kritisch zu sehen. Besonnenheit ist doch aber erstrebenswert, oder nicht?

Das Rationale dient bei ihm vor allem der Abwehr. Das ist eine eher männliche Haltung. Deswegen ist seine Frau Ann auch so erbost darüber. Frauen sind da anders gestrickt, sie lassen Sachen nicht so schnell unter den Tisch fallen. Wichtige Dinge oder Konflikte dürfen nicht unausgesprochen bleiben. Männer lassen Sachen eher unausgesprochen.

Tomas schreibt aber erfolgreiche Romane. Bücher sind vor allem dann erfolgreich, wenn sie die Emotionen der Menschen erreichen. Wie schafft Tomas das, wenn er selbst gar nicht erlebt, was er zu Papier bringt?

Was er im Leben nicht hinbekommt, gelingt ihm im Schreiben. In der Psychologie heißt das Sublimierung. Freud brachte damit das Phänomen zum Ausdruck, dass eine psychologische Erschütterung so verarbeitet wird, dass etwas Positives daraus wird.

"Man kann mit 3D Menschen viel genauer sehen"

Ihr Film wurde in der deutschen Presse überwiegend positiv besprochen, während die Kritiken in der englischsprachigen Presse eher schlecht waren.

Man könnte es auch deutlicher sagen: verheerend. Aber Rezensionen gab es nur in den Trade Papers (Fachzeitschriften wie Variety, Hollywood Reporter und ScreenDaily, SZ.de). Und die haben sich als das erwiesen, was sie de facto sind: Vertreter ihrer Industrie. Die haben gnadenlos gesagt: Unsere Branche braucht diese Form von 3D gar nicht und schon gar nicht in solchen Geschichten. Da ging es gar nicht um Filmkritik, sondern um das Vertreten von industriellen Interessen.

Europäisches Autorenkino ist den Amerikanern ja oft zu bedächtig. War Ihr Film für deren Geschmack zu langsam?

Wim Wenders bei der Berlinale 2015.

"Eine andere Art von Ding, als es im Kino bislang bekannt ist." Wim Wenders bei der Weltpremiere von "Every thing will be fine" auf der Berlinale 2015.

(Foto: Paul Katzenberger)

Ich glaube, es war für die noch schlimmer. Die sind völlig unvorbereitet reingegangen und haben vorher nicht mal in die Pressehefte reingeschaut. Dass die sich 3D-Brillen aufsetzen sollten, für ein intimes Familiendrama? Die haben die Welt nicht mehr verstanden. 'Was erzählt der eigentlich, und warum macht er das in 3D?'

Die Frage nach 3D ist Ihnen aber auch von der europäischen Presse gestellt worden. Der Film ist ja in weiten Teilen ein Kammerspiel und da halten viele 3D für unnötig. Normalerweise kommt das Format bei Phantasy- oder Actionfilmen zur Anwendung, warum bei Ihnen nun in diesem Film?

Dass das unnötig sei, hat in Deutschland keine Kritik behauptet. Wird auch niemand tun, der sich auf den Film einlässt. Soll ich das auf der erzählerischen Ebene erklären oder auf einer ontologischen oder philosophischen Ebene? Ich habe das in 3D gemacht, weil ich sicher bin, dass man einem Menschen, der vor der Kamera steht und der so auf der Leinwand erscheint, viel näher kommt. Das war meine Grunderfahrung aus "Pina": eine enorm gesteigerte Präsenz der Darsteller.

Ihr Dokumentarfilm "Pina" handelt allerdings vom Tanztheater, bei dem es um den Raum, also per se um die dritte Dimension geht.

Klar, das war auch erst mal der Ansatz. Aber dann hab ich gemerkt: Diese 3D-Kameras konnten noch viel mehr, die sehen so viel genauer! Und das muss man auch fürs Geschichtenerzählen benutzen! Ich hatte das Gefühl, die haben einen Röntgenblick und sehen richtiggehend in die Menschen hinein, auf ihren Grund. Oder wirken wie eine Lupe: Alles ist vergrößert. Das ist natürlich die gegenteilige Anwendung von dem, wie 3D in Actionfilmen gezeigt wird, wo man nämlich überhaupt keine Menschen sieht - selbst ein Johnny Depp in den Piratenfilmen in der Karibik ist ja eine reine Comicfigur. Dabei kann man mit 3D Menschen so viel genauer sehen...

Warum?

Man kann die Aura um einen Menschen herum erfassen, sein Geheimnis mitschauen. Und ich denke, das leistet "Every Thing Will Be Fine" auch, aber es ist eine Erfahrung, auf die man sich einlassen muss, und die im Kino ziemlich neu ist. Die Wahrnehmung, dass da jemand präsenter ist als Schauspieler vorher auf der flachen Leinwand, die muss man ins Bewusstsein eindringen lassen.

Ihr verstorbener Kollege Michael Glawogger, mit dem Sie neben anderen im vergangenen Jahr den Dokumentarfilm "Kathedralen der Kultur" realisiert haben, hat bei dieser Doku ebenfalls 3D für sich entdeckt. Sein Argument dafür klang recht ähnlich wie Ihres, aber mit dem Blick auf Gegenstände. Er bezog sich dabei insbesondere auf historische Folianten aus der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg, deren Innenleben er meinte, in 3D viel genauer zeigen zu können.

In seinem Fall waren es eben die Bücher. Ich glaube, Glawogger hätte das mit unterschrieben, dass alle Dinge in 3D anders erscheinen, eben präsenter sind, mehr "da"! Das ist auch ein Grund für den Titel meines Films, dass jedes einzelne Ding gut wird - wenn man die Dinge anders sieht, mit einer anderen Einstellung. 3D kann da richtig hilfreich sein, so eine Seh-Haltung zu ändern.

"Uns allen fehlt die Zeit"

Diese Dinge sind aber auch in Ihrem Film oft Bücher: Der Faulkner, den Kate im Kamin verbrennt; oder die Bestseller, die Tomas schreibt.

Richtig. Sehen sie: allein schon, wenn in den ersten Einstellungen des Films dieses Notizbuch auf dem Tisch liegt, und Tomas aufwacht und drauf starrt, dann ist dieses Notizbuch eine andere Art von Ding, als es im Kino bislang bekannt ist. Ich bin überzeugt davon, dass im zukünftigen 3D-Kino alle Dinge einen anderen Platz haben werden, und vor allem auch die Menschen. Auch in 3D-Dokumentarfilmen! Und das ist für die Trade Papers ein nacktes Entsetzen, das wollen sie eben gerade nicht. Sie wollen das Kino so perpetuiert sehen, wie es im Moment ist.

Wie ist denn das Kino aus Ihrer Sicht im Moment? Wenn wir heute den Mainstream betrachten, dann erschöpft der sich beinahe in Superheldenfilmen, während Polanski oder Kubrick in den Siebzigerjahren Massenereignisse waren - mit anspruchsvollen Filmen.

Vielleicht glorifiziert man die alten Zeiten etwas, aber damals gab es bestimmt nicht ganz so viel Schrott wie heute.

Woran liegt das? Fehlt es uns im Zeitalter von Internet und Mobilfunk an Geduld?

Die Geduld ist ein Teil davon. Sich überhaupt auf etwas einzulassen, wird ja immer schwerer. Das gilt für das Kino, aber auch für das tägliche Leben. Denn uns allen fehlt es an Zeit, die ständig noch kostbarer wird. Ich kenne niemanden, der sein Zeitmanagement im Griff hat, und all die Dinge hinbekommt, die er machen will, der liest, guckt und hört, was er lesen, gucken und hören will und dann noch seine Beziehungen pflegt. Ich kenne nur Leute, die hinterherhecheln. Ich selbst bin einer, der an vorderster Front hinterherhechelt, weil ich so viel mache.

Viel gemacht haben Sie aber schon immer. Ist die Zeit für Sie trotzdem kostbarer geworden?

Nur ein Beispiel: Die großen Filme, die ich in meinem Leben gesehen habe, habe ich manchmal gleich drei oder vier Mal hintereinander angeschaut. Ich bin in "2001" (Stanley Kubricks "2001 - Odyssee im Weltraum" von 1968, SZ.de.) und war dann die nächsten Tage immer in "2001". Oder ich war in Godards "2 ou 3 choses" in der Nachmittagsvorstellung, und dann bin ich bis zur letzten Vorführung drin geblieben und habe ihn gleich vier Mal hintereinander gesehen. Es ist doch ausgeschlossen, dass man das heute könnte.

Manchmal, wenn der Film toll war, reicht's vielleicht noch für ein zweites Mal.

Ja, das sagen mir manchmal die Leute: "Ich habe Ihren Film zwei Mal gesehen." Ich glaube das eigentlich nicht mehr so richtig. Vielleicht das zweite Mal schon im "Fast Forward". Das, wovon mein Film letztendlich handelt, dass der Tomas sich am Schluss endlich auf diesen Jungen einlässt und ihm sagt: "Du, ich lass' Dich in mein Leben rein", gerade das wird doch immer schwieriger: Sachen an sich ranzulassen. Es wurmt mich schon sehr, dass es den Menschen heute so geht, wie ich es in meiner eigenen Zukunftsvorstellung 1990 in "Bis ans Ende der Welt" gezeigt habe.

Wie könnten die Menschen dem Ihrer Meinung nach begegnen? Der Zeitmangel hat vielleicht ja auch positive Ursachen, etwa weil es mehr Möglichkeiten gibt, seine Zeit zu nutzen - von video-bloggen bis self-publishing. Sie selbst sagen von sich ja, dass Sie der Zeit hinterherhecheln, weil Sie viel tun.

Klar, es gibt mehr Möglichkeiten, mit Gott und der Welt in Verbindung zu sein, ein paar tausend Freunde zu haben... Aber wenn man mal einen braucht, dann hilft nur ein wirklicher, kein virtueller. Und hier liegt so ein Grundübel: Dass wir alle einen großen Teil unserer Erfahrungen nur noch aus zweiter Hand machen. Auch im Kino, alle diese Remakes und Sequels: nur noch alles zweite Hand! Die kostbaren Sachen passieren direkt, Auge in Auge, bei den wirklichen Dingen und mit den wirklichen Menschen. Die Zeit dafür muss man sich wieder nehmen, der virtuellen Welt wieder entreißen!

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