Wie wird es, fragt man sich auf dem Weg ins Kino durch den Nieselregen, wohl aussehen, wenn Wim Wenders einen tödlichen Autounfall inszeniert? Darum, so viel war schon vorher klar, wird es gehen in "Every Thing Will Be Fine", um einen Mann, der Trauerarbeit an sich selbst leisten muss, nachdem er ein Kind überfahren hat. Und seien wir mal ehrlich: Irgendwas mit viel Blut und Schockeffekten würde sich nur mit Mühe in Wenders' Werk fügen.
Andererseits zog es sich ja aber wie ein roter Faden durch diese Berlinale, dass die großen Filmemacher irgendwie nicht ganz sie selbst waren - Andreas Dresen macht in "Als wir träumten" coole Mätzchen, Werner Herzog hat für "Queen of the Desert" seine erste erotische Szene gedreht, Terrence Malick hat vor lauter Schnibbelei wohl vergessen, wovon sein "Knight of Cups" handeln soll. Und Wenders?
Der entführt uns in eine magische Welt, in der der Schnee alles rein und rund aussehen lässt. Der Schriftsteller Tomas (James Franco) wacht in einer Hütte auf am Anfang von "Every Thing Will Be Fine", neben einem bullernden Ofen, in Kanada, es ist Winter, draußen sitzen die Eisfischer. Nur zwei Seiten habe er geschrieben, erzählt er ihnen und einer von ihnen sagt: "You ain't writing and the fish ain't biting."
Als fände das alles im Inneren einer Schneekugel statt
Das ist so ein typischer poetischer Wenders-Kalauer - und da ist dann schon klar, dass Wenders ganz bei sich ist. Tomas fährt nun los, und die schicksalhafte Nacht, in die er sich hineinbewegt, untermalt von einem melancholischen, manchmal bedrohlich anschwellenden Score von Alexandre Desplat - die sieht so überirdisch schön aus, als fände sie im Inneren einer Schneekugel statt. Die Stimmung, die diesen Bildern innewohnt, setzt den Ton für "Every Thing Will Be Fine".
Denn der Film wird davon erzählen, dass den Menschen und der Welt, selbst dann, wenn ganz fürchterliche Dinge passieren, immer noch ein unzerstörbarer Zauber innewohnt. Wie bewältigt man ein Trauma, gibt es dafür ein Rezept? Es geht darum, wie auch ein schreckliches Ereignis einen Menschen zum Besseren formen kann, und wie schwer es ist, diesen unfairen Vorteil zu akzeptieren, sogar für ihn selbst.
Tomas will nach Hause, er will sich dort von seiner Frau (Rachel McAdams) trennen, eine Umleitung zwingt ihn auf eine einsame, tief verschneite Landstraße; irgendwo oberhalb liegt malerisch ein kleines, erleuchtetes Haus. Plötzlich schießt vom Schneewall neben der Straße ein kleiner Schlitten herunter, genau vor sein Auto. Er bremst, steigt aus, vor der Kühlerhaube sitzt ein kleiner verstörter, aber unversehrter Junge - und erst als er mit ihm zu dem Haus gegangen ist, ihn bei seiner Mutter Kate (Charlotte Gainsbourg) abgeliefert hat, begreift er, dass auf dem Schlitten ein zweites Kind gesessen haben muss.
Die Geschichte entspinnt sich nun über das nächste Jahrzehnt. Tomas hat keine Schuld an dem Tod des Kindes, nicht einmal Kate sieht das so. Und doch bringt ihn das, was geschehen ist, fast um. Und es macht ihn zu einem besseren Schriftsteller. Er wird nicht über den Unfall schreiben - aber er ist nicht mehr derselbe Mann, und er kann nichts dafür, dass seine Lebenserfahrung nicht nur von ihm selbst Opfer gefordert hat.
James Franco ist hier ganz großartig, ein ruhiger Grübler, dem seine Mitmenschen am ehesten vorwerfen, dass er nie die Contenance verliert. Er bleibt dann auch ganz ruhig, als ihn Kate fragt, ob er Faulkner mag und dann das Buch im Ofen verbrennt, das sie während des Unfalls gelesen hat. Das ist ein kleiner Scherz am Rande - Franco ist ein großer Faulkner-Fan und hat "Als ich im Sterben lag" und "Schall und Wahn" verfilmt.
Wenders hat "Every Thing Will Be Fine" in 3D gedreht, was für diese Art von Kino, ohne Monster, Explosionen und einstürzende Neubauten, sehr ungewöhnlich ist. Das war sicher nicht zwingend - es gibt dann aber doch ein paar Momente, in denen sich daraus sehr schöne Effekte ergeben. Anfangs beispielsweise, wenn Tomas einmal auf den verschneiten Steg eines zugefrorenen Sees geht, oder in einer Nacht, als Kate und Tomas telefonieren, sich in manchen Momenten die Leinwand teilen, mal der eine, mal der andere im Vordergrund zu sein scheint, als wäre man auch räumlich beiden Figuren, in ihrem unterschiedlichen Schmerz, ganz nah.
Meisterlich ist daran dann aber vor allem, wie Wenders allen Fallen ausweicht, die diese Geschichte stellt: der Idee beispielsweise, dass die Kunst für alles eine Rechtfertigung ist. Aber Tomas tut immer genau das Richtige - er kann nur die Vergangenheit nicht ändern. Und wenn sich dann am Ende die Hoffnung auf leisen Sohlen anschleicht und das Leben weitergeht, ist das wirklich ein magischer Moment; und es ist ein bisschen schade, dass dieser Film zwar im Wettbewerb läuft, aber außer Konkurrenz.
Alexej German jr.: "Under Electric Clouds"
Gerade gemessen daran wirkt der russische Wettbewerbsbeitrag "Under Electric Clouds" von Alexej German jr., unkonzentriert und prätentiös. Man kann das auch für besonders originell halten, für seinen wirren Kosmonauten-Film "Paper Soldier" von 2008 galt nämlich dasselbe, und German bekam dafür in Venedig den Regie-Preis. Auch "Under Electric Clouds" beginnt im Schnee, nur ist er hier nicht magisch, sondern eher apokalyptisch - über ihm liegt Nebel und unter ihm, so scheint es, verrottet ganz Russland.
Der ganze Film spielt im Zwielicht, nirgends ist Hoffnung, alles bleibt trüb - und auch inhaltlich wird im Nebel gestochert. German hat das russische Elend in Kapitel unterteilt, mit viel zu viel Personal, vom obdachlosen kirgisischen Bauarbeiter bis zur Tochter eines toten Oligarchen.
Es sind ein paar hübsche Einfälle dabei - wenn beispielsweise ein paar hoffnungslose Gestalten mit Holzschwertern eine Schlacht der Elben gegen die Orks nachspielen, weil die Welt bei Tolkien genauso unübersichtlich sei wie die richtige. Insgesamt aber tauchen diese Figuren auf, beklagen sich, machen vor der Kamera ein bisschen Theater und gehen wieder ab - man lernt sie nie gut genug kennen, um zu verstehen, was sie denn nun empfinden außer kollektiver Verzweiflung, oder was genau denn nun schiefgegangen sein soll in den letzten zwanzig Jahren.
Der Kapitalismus lebt, Lenin ist tot, und an Solschenizyn kann sich kaum jemand erinnern. Ja, gut. Aber zwei Dutzend halbe Gedanken sind eben immer noch kein ganzer. Eines aber macht German aber natürlich ganz perfekt: Er bedient eine diffuse Endzeitstimmung. Und vielleicht hat er da einen Nerv getroffen, unter dem trüben Himmel über Berlin.