Willkürherrschaft:Ägypten: Sie sind verhaftet! Und zwar alle"

Willkürherrschaft: Gängelung von Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft: Ein Arzt protestiert gegen Polizeiwillkür in Kairo.

Gängelung von Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft: Ein Arzt protestiert gegen Polizeiwillkür in Kairo.

(Foto: AP)

Wer den Mund aufmacht, riskiert jahrelange Gefängnisstrafen: Die Justiz Ägyptens geht immer härter und völlig willkürlich gegen Journalisten, Autoren und Intellektuelle vor.

Von Paul-Anton Krüger, Kairo

Es gibt in Ägypten keine Freiräume mehr, hat der Schriftsteller Ahmed Naji im Dezember der Süddeutschen Zeitung gesagt. Da hoffte er noch auf Freispruch. Nun hat er die Höchststrafe erhalten: zwei Jahre Haft wegen Verletzung des öffentlichen Anstands, urteilten die Richter.

Sein Verbrechen: Der 30-Jährige, einer der nicht allzu zahlreichen experimentellen, interessanten Autoren der ägyptischen Gegenwartsliteratur hat: einen Roman geschrieben!

Das Literaturmagazin Akhbar al-Adab aus der staatlichen Verlagsgruppe Akhbar al-Youm druckte das sechste Kapitel aus Najis 2014 in Beirut erschienener "Gebrauchsanweisung für das Leben" nach. Und ein 65 Jahre alter Anwalt nahm Anstoß daran.

Der Auszug enthielt eine Sexszene: Der Ich-Erzähler trifft nach einer durchsoffenen Nacht auf einer Wohnungsparty in Downtown Kairo eine neun Jahre ältere Frau zum Frühstücks-Rendezvous - und befriedigt sie in ihrer Wohnung erst mit der Zunge, bevor "wir in ihr Zimmer gingen und langsam Liebe machten".

Der Kläger behauptete, er habe bei der Lektüre Herzrhythmusstörungen erlitten und sah darin "einen bösartigen Angriff auf die öffentliche Moral und die guten Sitten".

Importierte Prüderie der Bourgeoisie

Selbst im Kontext des arabischen Sprach- und Kulturraums mutet das grotesk an. Naji bedient sich in der Szene moderner Umgangssprache, wie man sie auf Kairos Straßen jeden Tag hört, offenbart aber zugleich seine Beherrschung des klassischen Sprachschatzes.

Wie Richard Jacquemond, Professor für moderne arabische Literatur an der Universität Aix-Marseille, erklärt, streut er ein Verb ein, das übertragen bedeutet, eine Frau beim Sex zu schütteln, zu bewegen.

Jacquemond musste das klassische Wörterbuch Lisan al-Arab konsultieren, ein Standardwerk aus dem 13. Jahrhundert, um sich die Bedeutung zu erschließen. Damals, sagt er, konnten Dichter und Theologen solche Worte benutzen - aus modernen Kompendien sind sie verbannt.

Jacquemond führt das zurück auf die unheilvolle Kombination einer im 19. Jahrhundert von arabischen Eliten aus Europa importieren Prüderie der Bourgeoisie und salafistischer Ideologie.

"Attacken auf öffentliche, persönliche, akademische und künstlerische Freiheiten"

Die Staatsanwaltschaft klagte Naji dennoch an - ungeachtet dessen, dass Ägyptens Zensor das Buch freigegeben hat. Sie ließ sich auch nicht von Artikel 67 der Verfassung von 2014 beeindrucken, der Freiheitsentzug ausschließt für Straftaten, die durch die Veröffentlichung künstlerischer, literarischer oder intellektueller Werke begangen werden.

Die erste Instanz sprach Naji Anfang Januar daher noch frei, im Berufungsverfahren setzten sich die Ankläger nun durch - mit voller Härte. Der Chefredakteur der Zeitschrift, Tarek al-Taher, wurde ebenfalls verurteilt, zu einer Geldstrafe von umgerechnet 1200 Euro.

"Mit Sorge sehen wir die Zunahme unterdrückerischer Praktiken, die Attacken auf öffentliche, persönliche, akademische und künstlerische Freiheiten", heißt es in einer Solidaritätserklärung, die mehr als 500 Künstler und Schriftsteller unterzeichnet haben.

Klima der Angst

Willkürherrschaft: Ahmed Naji, verurteilt zu zwei Jahren Haft - wegen eines Romans.

Ahmed Naji, verurteilt zu zwei Jahren Haft - wegen eines Romans.

(Foto: Yasmin Hosam El Din/AP)

Es herrscht ein Klima der Angst, auch unter Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft, das es so selbst unter Diktator Hosni Mubarak nicht gab.

Seit Monaten läuft gegen sie alle eine vielschichtige, systematische Einschüchterungskampagne, in der Justiz, Sicherheitsapparat und andere Teile des vom Militär kontrollierten Regimes Hand in Hand spielen.

Die Dimension erschließt sich erst, wenn man einen Schritt zurücktritt. Dann fügen sich scheinbar unterschiedliche Fälle zu einem erkennbaren Muster. Es gibt in Ägypten keinen Rechtsstaat. Es herrscht Willkür.

Im Fall Naji sah sich selbst Kulturminister Helmy al-Namnam gezwungen, Partei für den Autor zu ergreifen. Im Journalistensyndikat bekundete er, Gesetze, die in Konflikt mit den Verfassungsgarantien der Meinungs- und Kunstfreiheit stünden, müssten geändert werden.

Najis Verurteilung sei ein Präzedenzfall, dessen Bedeutung weit über seinen Roman hinausreiche. Warum die Regierung nichts tut, um diesen und andere verfassungswidrige Gummiparagrafen zu ändern, erklärte er nicht.

Subjektivität als einziges Kriterium

Denn die hier bemühte Strafvorschrift ist nicht die einzige, die dem rechtsstaatlichen Grundsatz der klaren Bestimmtheit von Strafnormen Hohn spricht, aber regelmäßig genutzt wird, um unliebsame Autoren und Intellektuelle hinter Gitter zu bringen.

Eine andere betrifft den Vorwurf der Religionsbeleidigung: Ende Januar verurteilte ein Gericht in Kairo die Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin Fatima Naoot in erster Instanz zu drei Jahren Haft. Sie hatte die rituelle Schlachtung von Tieren zum Opferfest, dem höchsten Feiertag im Islam, auf Facebook als "Massaker" bezeichnet und war ebenfalls von Anwälten angezeigt worden. Das Berufungsurteil steht noch aus.

Der gleiche Tatbestand, dessen einziges Kriterium das subjektive Empfinden des Richters ist, brachte den TV-Moderator Islam el-Behery für ein Jahr ins Gefängnis. Er hatte gewagt, seine eigene Interpretation des Islam zu verbreiten und, schlimmer, die Glaubwürdigkeit mancher Hadithe infrage zu stellen.

Schwarzes Loch Nordsinai

Diese Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed sind nach dem Koran die wichtigste Rechtsquelle im Islam. "Vielen Dank an Präsident Abdel Fattah al-Sisi für seine religiöse Revolution", ätzte er danach.

Sisi hatte die Gelehrten der Azhar-Universität, der höchsten Instanz der Sunniten, aufgerufen, eine gemäßigte Version des Islam zu predigen. Doch die Azhar beharrte auf der Orthodoxie und zerrte el-Behery, der gegen ultrakonservative Salafisten Front machte, vor Gericht.

Vielleicht fragen die Abgeordneten des Bundestags den Großscheich der Azhar nach dieser Hexenjagd, wenn Ahmad Mohammad al-Tayyeb am 15. März im Reichstag zu ihnen über das "Friedenspotenzial des Islam" spricht.

Ebenfalls zunehmend genutzt als Vorwurf gegen Journalisten: die Verbreitung gefälschter Nachrichten und die Gefährdung der Sicherheit des Staates. Der investigative Journalist Ismail Iskandarani wurde im Dezember von Berlin kommend in Hurghada am Flughafen festgenommen; seither sitzt er in Untersuchungshaft. Er galt als der Experte für den Dschihadismus in Ägypten und für den Nordsinai.

Die Gegend ist ein schwarzes Loch, gesperrt für Journalisten. Die Armee kämpft dort gegen den "Islamischen Staat" (IS) - und nimmt dabei wenig Rücksicht auf die lokalen Beduinen.

Tod und Zwangsumsiedlungen

Ägyptische Armee im Nordsinai.

Die Beduinen im Nordsinai werden von der ägyptischen Armee (im Bild in der Beduinenstadt asch-Schaich Zuweid) terrorisiert. Berichte darüber sind gefährlich.

(Foto: AP)

Iskandarani berichtete über Zwangsumsiedlungen, über ausbleibende Entschädigungen für Angehörige getöteter Zivilisten. Und, was das Militär wohl besonders erboste, dass der IS zeitweise acht Dörfer kontrollierte.

Im August hörte er auf, über Sinai zu schreiben, es war ihm zu gefährlich geworden. Nun wollen die Ermittler wissen, welche Quellen er hatte - und beschuldigen ihn zudem, der Muslimbruderschaft anzugehören, ein Vorwurf, der Iskandarani eine lange Haftstrafe einbringen könnte, den er aber ebenso vehement wie glaubhaft bestreitet.

Hossam Bahgat, auch er investigativer Journalist, war im November von der Militärstaatsanwaltschaft verhört worden, weil er anhand von Gerichtsdokumenten eine angebliche Verschwörung von Muslimbrüdern in den Reihen des Militärs aufgedeckt hatte.

Bei Bedarf weder Aus- noch Einreise

Bahgat kam zwar frei, wurde aber jüngst in Kairo daran gehindert, zu einer UN-Konferenz in Amman zu fliegen - auf Anweisung des Generalstaatsanwalts, wie man ihm sagte, jedoch ohne Begründung. Er weiß nicht, ob weiter gegen ihn ermittelt wird oder nicht.

Genauso erging es dem Menschenrechtsanwalt Gamal Eid, der auf "Anweisung der Justiz" gestoppt wurde. Ihm wurde ebenfalls nicht mitgeteilt, ob ein Strafverfahren gegen ihn anhängig ist.

Dem in Deutschland lebenden Literaturwissenschaftler Atef Botros dagegen verweigerten die Behörden die Einreise, wie zuvor schon anderen ausländischen Autoren, Wissenschaftlern und Menschenrechtlern. Seine Familie und seine Heimat wird er wohl so schnell nicht wiedersehen.

Subtile Methoden, um Druck auszuüben

Seit 2008 besitzt Botros nur den deutschen Pass - was ihn wahrscheinlich vor einer Festnahme bewahrte. Inspiriert von den Idealen der Revolution von 2011, setzte er sich als Mitgründer des deutsch-ägyptischen Vereins Mayadin al-Tahrir für benachteiligte Menschen in Armenvierteln von Kairo ein. Dass er dem Regime kritisch gegenübersteht, ist kein Geheimnis, dass er ausgerechnet Kafka-Experte ist, eine bittere Ironie der Geschichte.

In dem Verhör am Flughafen von Kairo hielten ihm die Beamten Informationen vor, die laut Botros aus der ägyptischen Botschaft in Berlin stammten. Die bestreitet zwar vehement, Regimekritiker zu bespitzeln. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner, die regelmäßig nach Ägypten reist, sagt aber, dass sich viele Ägypter in Deutschland nicht mehr trauten, die politische Situation ihres Heimatlandes in der Öffentlichkeit zu diskutieren.

Auch in Ägypten wählt der Staat subtile Methoden, um Druck auszuüben. Das Nadeem Center zur Rehabilitierung von Folteropfern hat vom Gesundheitsministerium eine Schließungsanordnung erhalten - weil es angeblich die Grenzen seiner Lizenz überschreitet.

Die Ärzte hatten einen Bericht veröffentlicht, der für 2015 mehr als 600 Fälle von Folter durch die Sicherheitsbehörden dokumentiert und fast 500 Fälle, in denen diese Menschen töteten.

"Sie wollen sich an allen rächen, die bei der Revolution dabei waren"

Ein Steuerverfahren droht, dem wichtigsten unabhängigen Verlag Dar Merit das Ende zu machen. Inhaber Mohammed Haschem soll 2,6 Millionen Pfund zahlen, umgerechnet 300 000 Euro. "Dabei habe ich nie Gewinn gemacht, ich besitze keine zwei Pfund", sagt der Verleger, in dessen Büro sich die Revolutionäre vom Tahrir trafen und heute regimekritische Schriftsteller und Intellektuelle.

"Sie wollen sich an allen rächen, die an der Revolution teilgenommen haben", sagt er und ist doch wild entschlossen weiterzumachen. "Ich glaube nicht an die drei großen Tabus Sex, Religion und Politik", sagt Haschem. Bei ihm wird alles publiziert.

Sofort berief er nach dem Urteil gegen Naji ein Treffen ein, um die "Bemühungen von Schriftstellern zu koordinieren, die Attacken der Regierung auf die Freiheit der Kunst ausgesetzt sind". Sie wollen zumindest Widerstand leisten, wenn ihnen die letzten Freiräume genommen werden.

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