Wer von Tanz wenig hält und von Tanz-Streams gleich gar nichts, der sollte sich bis 16. Mai unbedingt vom Gegenteil überzeugen lassen. So lange zeigt Londons Tanzhaus Sadler's Wells auf seiner Website eine hinreißend charmante Produktion - eine der besten, die im Lockdown entstanden sind: "The Barre Project - Blake Works II", choreografiert von William Forsythe, präsentiert von vier Exzellenzen der US-Ballettszene.
Als die Welturaufführung Ende März weit nach Mitternacht aus den kalifornischen CLI Studios über den großen Teich geflogen kam, hatte sich die Community den Wecker gestellt: Tablet an, Licht aus - binnen Sekunden war man hellwach. Denn das, was die Briten jetzt als Europapremiere versenden, ist ein Highspeed-Muntermacher. Tiler Peck hat das Unternehmen angeschoben, ihres Zeichens Principal des New York City Ballet. Die toughe Ballerina sprang in die Rolle der Co-Produzentin und ist zugleich Frontfrau des vierköpfigen Cast, dem außer ihr selbst die Herren Lex Ishimoto, Roman Mejia und Brooklyn Mack angehören. Was ein Traumquartett ergibt - spritzig, witzig und tanztechnisch derart scharfkantig unterwegs, dass einem schier die Spucke wegbleibt. Wobei es noch einen fünften Darsteller gibt, den eigentlichen Aufhänger der Geschichte: "The Barre Project" huldigt der Ballettstange, die hier metallisch auf nachtschwarzer Bühne glänzt und acht Menschenbeine beim Fliegen, Dehnen, Springen, Aus- und Einwärtsdrehen unterstützt.
Gleich zu Beginn taucht Tiler Peck in Himmelblau aus der Finsternis auf und hält forsch auf das quer zur Sichtachse postierte Hilfsgerät zu: Hand auflegen, Fuß strecken, Schwung holen, einmal kreiseln und dann katzengeschmeidig die Hüfte ausfahren, während die Arme gegenläufig pendeln - sieht aus, als gäb's nichts Simpleres auf der Welt. Nahtlos schließt Lex Ishimoto mit battierten, gekreuzten und axial verschraubten Sprüngen an, wiederum abgelöst von den messerscharfen Piqués der Kollegin, bis Roman Mejia mit rotierenden Unterschenkeln ins Bild drängt - links herum, rechts herum in schwindelerregendem Tempo. Sechs Minuten dauert die erste von insgesamt fünf Episoden, die Forsythe via Zoom choreografiert hat: Er blieb in Vermont, das Tanzteam versammelte sich in Kalifornien, wo "The Barre Project" im September 2020 aufgezeichnet wurde.
Das Stück war schon mal an der Pariser Oper zu sehen, als turbotauglicher Tanztreibstoff
Zwei Doku-Einschübe präsentieren "Grandpa", wie der Siebzigjährige sich selbst tituliert, in Topform: als flotten Vorturner in der Ferne, dessen Ideen Tiler Peck resolut umsetzt. James Blakes elegant getunter E-Pop, von Forsythe bereits 2016 an der Pariser Oper zum Einsatz gebracht, dient als turbotauglicher Tanztreibstoff. Was der britische Singer-Songwriter komponiert, wirkt wie akustische Architektur und liegt deshalb exakt auf der ästhetischen Linie, die sich seit legendären Frankfurter Zeiten durch Forsythes Œuvre zieht. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, selbst minimale Verzögerungen oder Verschiebungen sind programmiert und zigmal geprobt. Nur absoluter Perfektionismus erzeugt den typischen Forsythe-Effekt des leicht, locker und leger Beschwingten. Und nur hochkarätige Tänzer sind in der Lage, ihn herzustellen.
Tiler Peck und ihre drei Kompagnons ziehen dreißig Minuten lang das Virtuosen-Register. Allein bestreitet die Ballerina ein elegisches Adagio, dann folgt ein Schrittfeuerwerk in voller Besetzung, aufgeladen mit Salsa-Energie und stolzer Ballroom-Allüre. Zwischendrin gleiten acht Hände im Halbdunkel über die Stange - erst solo, später in einen Streichel-Pas-de-deux verstrickt. "We can't fly too high," verkündet James Blake dazu. William Forsythe indes beweist sich mit "The Barre Project" als Tanz-Überflieger schlechthin: Der Mann ist immer noch und immer wieder ganz einfach konkurrenzlos gut.