Süddeutsche Zeitung

Willi Sitte-Ausstellung in Halle:Muss man nicht lieben

Das Museum Moritzburg zeigt eine Retrospektive zum 100. Geburtstag des "DDR-Staatskünstlers" Willi Sitte. Ist das eine gute Idee?

Von Burkhard Müller

Hundert Jahre wäre er dieses Jahr alt geworden, und dreißig Jahre ist es her, dass er in der Versenkung verschwand, in Schimpf und Schande: Willi Sitte, geschmäht als "Staatskünstler" der DDR, zum Schluss mehr machtbewusster Funktionär als Maler, Vorsitzender des Verbandes bildender Künstler und selbst Mitglied im ZK der SED, ostdeutscher Betonkopf, der jederzeit Gebrauch von seinem Privileg auf Westreisen machte, und voll reuelosen Trotzes auch nach 1989.

Nun hat es das Museum Moritzburg in Halle, wo Sitte mehr als sechzig Jahre lebte und wirkte, gewagt, eine von Thomas Bauer-Friedrich kuratierte Gesamtschau von Sittes Werk zu zeigen. Unumstritten ist das nicht - kein westdeutsches Museum wollte die Ausstellung im Anschluss übernehmen -, aber verdienstvoll. Was immer man von dem Künstler halten mag: Sehen kann man ihn jetzt wieder, erstmals seit Jahrzehnten und das erste Mal überhaupt dermaßen vollständig.

Es geht nicht darum, ihn zu rehabilitieren, im Gegenteil. Bei der Recherche für die Retrospektive kamen Dinge ans Licht, die sehr zu Sittes Ungunsten sprechen, etwa, dass er schlicht log, wenn er behauptete, sich in Italien schon 1944 den Partisanen angeschlossen zu haben. Eine keineswegs harmlose Lüge, denn sie trug maßgeblich zu seiner Position im Arbeiter- und Bauernstaat bei.

Sitte, 1921 in einer proletarischen Familie im überwiegend deutsch besiedelten Teil der Tschechoslowakei geboren, zeigte schon früh zeichnerische Begabung und wurde in die Hermann-Göring-Meisterschule aufgenommen. Er rebellierte gegen das Schulsystem, wurde strafweise an die Ostfront, später nach Italien versetzt und landete dann in der sowjetischen Besatzungszone. Seine frühen Arbeiten lassen erkennen, dass er technisch bereits so gut wie fertig war, aber nicht wusste, was er mit solcher Fertigkeit anfangen sollte.

Der Vorwurf der "westlichen Dekandenz" begleitete ihn lange

Blätter wie sein "faschistischer Totentanz" oder die "Allegorie des Existenzialismus" muten vage altdeutsch an, Dürer und Altdorfer sind nicht weit, auch die Symbolisten haben es ihm angetan. Aber auch neuere Einflüsse saugt er auf; bei vielen selbst der späteren Bilder lässt sich ablesen, welchen Star der klassischen Moderne er zuletzt gesehen hat, wobei Picasso und Fernand Léger herausragende Rollen spielen. Damit eckte er natürlich in der DDR an; der ästhetische Vorwurf des "bürgerlichen Formalismus" und der moralische der "westlichen Dekadenz" begleiteten ihn viele Jahre. Immer wieder musste er sich der herben wie unbedarften Kritik der Werktätigen stellen - so schlumpig sehen unsere Menschen nicht aus, und wo bleibt überhaupt das Positive! -, und es blieb ihm auch nicht das Ritual der Selbstkritik erspart. Danach kann man einen Knick in seinem Schaffen besichtigen, auf einmal malte er braver im sozialistischen Stil. Man kann also nicht sagen, dass seine Kunst von seinem persönlichen Opportunismus sauber abzutrennen wäre.

Und doch hat Sitte im deformierenden Vektorenfeld privater und gesellschaftlicher Einflüsse einige erstaunliche Bilder gemalt. "Unsere Jugend" von 1961: der Titel verheißt nichts Gutes. Aber den Blick zieht bei diesem großen sechsteiligen Stück sofort das tanzende Paar auf sich. Wie zwei schwebende Statuen bieten sich der Herr und die Dame dar, doch die Dame mit ihrer frechen Kurzfrisur wird beflügelt von der seligen Anmut ihres Lächelns und dem Schwung ihres kurzen Kleides, das bei den raschen Drehungen um eine halbe Sekunde zurückbleibt und so den ganzen Tanz in sich enthält: Inbegriff des "fruchtbaren Augenblicks", wie Lessing ihn für die bildende Kunst postuliert hat. Dazu geht der Mond des Saxophontrichters wie eine Abbreviatur des verruchten Nachtlebens auf, vorn findet sich das entzückende Stillleben einer Sektflasche und zweier schlanker Gläser, das die Sache rund macht. 1961, das war das Jahr des Mauerbaus und von Sittes persönlicher Krise, er wurde von offizieller Seite angegriffen, zwei Frauen machten Druck auf ihn, er solle sich endlich entscheiden, er beging zwei Suizidversuche. Und dennoch entstand dieses Bild.

Der spätere Sitte, ab den Siebzigern, ging dann ins Monumentale. Die Leiber wurden schwer und bunt, manchmal wirken sie wie gehäutet. Die Form des Triptychons muss nun für politische Themen herhalten, zur Verurteilung des Vietnamkriegs und zur Rechtfertigung des Einmarschs der Warschauer-Pakt-Staaten 1968 in Prag. Der wuchtigen malerischen Mittel ungeachtet ist das Ergebnis eher blass-allegorisch, die Übeltäter agieren mit Schwertern und Lanzen, obwohl tatsächlich Napalm zum Einsatz kam, und die Apologetik der Gewalt auf der "richtigen" Seite, mit Porträts von Franz Josef Strauß und Bild-Schlagzeilen, verstimmt durch auftrumpfende Unaufrichtigkeit. Manchmal entwischt Sitte die Wahrheit unbeabsichtigt: Im Bild "Freundschaft" umklammert der sowjetische Bruder sein deutsches Gegenüber mit solchen Bärenpranken, dass dessen Hemd platzt und offenbar Blut spritzt, was dem Künstler gar nicht aufzufallen scheint.

Hände spielen bei Sitte immer eine besondere Rolle

Mit demselben Pinselduktus geht Sitte ins Private, nimmt sich des Sportlers, des Akts und des Liebespaars an. Aber er erholt sich dabei vom Politischen. Eine unglaubliche Bilderfindung, halb über, halb unter Wasser, liegt dem "Schwimmer" zugrunde. Ein nacktes Paar vergnügt sich erotisch miteinander in einem engen DDR-Badezimmer. Sehr handfest geht es zu (Hände spielen bei Sitte immer eine besondere Rolle), ja man könnte fast vermuten, dass hier Gewalt im Spiel sei - aber die Frau lacht dazu; sie hat alles unter Kontrolle, sie ist unübersehbar die Hauptperson. Aktbilder stehen heute nicht zu Unrecht unter dem Verdacht, den weiblichen Körper an den männlichen Blick auszuliefern; und es ist aufschlussreich zu sehen, welche unterschiedlichen Schicksale dieser Blick in Sittes Bildern erfahren kann. Wiederholt hat er sich des "Urteils des Paris" angenommen. Er fängt an mit der klassischen Fleischbeschau der drei Göttinnen, so wie dieses Thema von jeher behandelt wurde. Dann jedoch ändert sich die Perspektive, und man sieht die drei Frauen, unbefangen unter sich, wie sie über den anmaßenden Schönheitsrichter und den Zankapfel, der nurmehr einem gewöhnlichen Boskop gleicht, in Lachen ausbrechen.

Man muss diesen Sitte nicht lieben, weder den Menschen, noch den Künstler. Doch die Ausstellung bietet Gelegenheit, sich mit beiden auseinanderzusetzen - und interessant ist Sitte aus zwei Gründen: wegen seiner exemplarischen Karriere im untergegangenen deutschen Staat, mit allem, was dazugehörte, besonders dem Unerquicklichen; und wegen seiner überquellenden Produktivität, deren Resultat noch der Sichtung harrt. Wenige andere Künstler dürfte es geben, wo das völlig Misslungene derart krass neben den überraschendsten und beglückendsten Funden steht. Aus diesem Haufen gilt es, ein Werk im engeren Sinn erst herauszuklauben. Wer etwas wirklich Neues entdecken will, der sollte nach Halle reisen.

Moritzburg Halle, bis 9. 1. 2022.

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