Kulturgeschichte:Mit dem Fahrplan in die Moderne

Zwischen Goethe und Karl Marx, zwischen guter alter Zeit und bedrohlichem Fortschritt: In einem erzählerischen Bilderbogen vergegenwärtigt Wilhelm Bleek die Epoche des Vormärz.

Von Gustav Seibt

Wenn nach den Epochen mit den stärksten Nachwirkungen auf unser heutiges Leben gefragt würde, würden wohl kaum sehr viele Menschen antworten: die Zeit des Vormärz. Dass die Reformation, die die konfessionelle Spaltung Deutschlands brachte, heute noch ein gewaltiger Faktor ist, zeigen Lutherfeiern jedes Halbjahrhundert. Der Dreißigjährige Krieg ist unvergessen, nicht nur wegen Schillers "Wallenstein", sondern vor allem als mentalitätsprägender Faktor. Napoleon hat die deutsche Landkarte umgepflügt, mit Wirkungen, die sich nicht mehr rückgängig machen ließen. Von Bismarck stammt der kleindeutsche Nationalumriss, der uns bis heute bestimmt. Der blutige und kriegerische Vorlauf der Gegenwart in zwei Weltkriegen ist ohnehin dauerpräsent. Aber der Vormärz? Schon der Name dieser Epoche zwischen dem Wiener Kongress von 1814/15 und der Revolution von 1848 benennt ein Interim, einen Vorlauf, weil die bürgerliche Revolution eben im März 1848 erst richtig begann. Alternative Bezeichnungen sprechen von "Restauration" und "Biedermeier".

Biedermeier ist ein bis gestern populärer Möbelstil von bescheidener, aber zierlicher Schlichtheit als Ausdruck bürgerlich-familiärer Häuslichkeit, eine Welt von Hausmusik und Stimmungslyrik. Restauration meint gegenrevolutionäre Beruhigung nach dem napoleonischen Sturm, in Deutschland Kleinstaaterei, Zensur und ein bisschen jugendliche Rebellion. Offiziöse Anlässe, an diese Zeit zu erinnern, bieten eigentlich nur noch die Büchner- und Börnepreise, weil da an die Namensgeber erinnert wird, beide Exilanten aus stickigen Verhältnissen.

Man kann eine Gegenrechnung aufmachen, und dazu lädt die eingängig geschriebene, geschickt komponierte Darstellung von Wilhelm Bleek ein. Es ist eins der inzwischen seltenen, umso rühmenswerteren Geschichtsbücher, die sich nicht einem Gedenktag verdanken, sondern dem Interesse und der Kompetenz des Autors, der daher auch nicht mit zehn anderen Darstellungen konkurrieren muss. Schon die Inhaltsübersicht erinnert an Errungenschaften und Ansätze dieser Zeit, die allzu selbstverständlich wirken: geschriebene Staatsverfassungen, die Eisenbahn, die Schwerindustrie, den fertiggestellten Kölner Dom, den Baedeker mit seinen Sternen, den politischen Kommunismus, den zweiten Teil des "Faust".

Vormärz - Hambacher Fest 1832

Die nachträglich kolorierte Lithografie von Erhard Joseph Benzinger zeigt den Festzug auf das Hambacher Schloss, 27. Mai 1832.

(Foto: picture alliance / ullstein bild)

Wollte man diese Epoche in einer einzelnen Person vorstellen, böte sich Bettine von Arnim an, die Schwester des Romantikers Clemens Brentano, die aus enger persönlicher Vertrautheit einen schwärmerischen Goethe-Kult begründete. Später wurde Bettine zur ersten Autorin, die auf die neue soziale Frage aufmerksam machte, die sich aus Übervölkerung, Landflucht und einem städtischen Lumpenproletariat ergab, in einem Buch, das sie 1843 direkt an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. richtete. Sie lernte noch den jungen Karl Marx kennen und interessierte sich so stark für ihn, dass sie ihn während eines Aufenthalts in Bad Kreuznach 1842 dauernd auf lange Wanderungen entführte, zum Ärger von dessen Braut Jenny.

Bleek hat seinen Stoff auf zwei Dutzend farbige Episoden verteilt, die jeweils für eine größere Tendenz des Zeitalters stehen. Den Frühkonstitutionalismus stellt er anhand der Verfassung von Sachsen-Weimar-Eisenach vor, die 1816 eingeführt wurde und für kurze Zeit die allgemeine Pressefreiheit behauptete. Die deutsche Nationalbewegung und ihren radikalen Flügel lassen das Wartburgfest von 1817 und die Ermordung des Schriftstellers Kotzebue durch einen Studenten 1819 anschaulich werden, samt nachfolgender Reaktion im System Metternich. Festkultur und Gesangsvereinswesen, für die Politisierung breiter Schichten unentbehrlich, werden dem Leser anhand des Hambacher Festes von 1832 und des Schleswig-Holstein-Lieds von 1844 erklärt; das letztere führt in die neuartige Problematik einer sich in Nationalitäten sortierenden Welt ein.

Dass das Kölner Dombaufest (1842), mit dem die Fertigstellung des im Spätmittelalter liegen gebliebenen Baus eingeläutet wurde, und die Rheinische Zeitung von Karl Marx (1843) in unmittelbarer örtlicher und zeitlicher Nähe liegen, zeigt mehr von den Spannungen der Epoche als lange Erörterungen. Das Rheinland wurde auch Anziehungspunkt des neuen bürgerlichen Massentourismus, der nach Reiseführern mit Sehenswürdigkeiten, Gaststätten und Fahrplänen verlangte - Eisenbahn und Dampfschifffahrt erlaubten erstmals Reisen nach Kalender und Uhrzeit, und Karl Baedeker machte ein Buchgeschäft daraus. Einen weiten Bogen spannt Bleek auch vom Bau Bremerhavens 1827 zum Abschluss von Goethes "Faust" mit seinem Landgewinnungs- und Hochseeprojekt. Bremerhaven wurde alsbald zum wichtigsten Auswandererhafen Deutschlands, von dem der Bevölkerungsüberschuss der immer noch an Hungerkrisen leidenden Gesellschaft nach Übersee verschifft wurde.

Kulturgeschichte: Wilhelm Bleek: Vormärz. Deutschlands Aufbruch in die Moderne 1815-1848. Verlag C.H. Beck, München 2019. 336 Seiten, 28 Euro.

Wilhelm Bleek: Vormärz. Deutschlands Aufbruch in die Moderne 1815-1848. Verlag C.H. Beck, München 2019. 336 Seiten, 28 Euro.

Frühindustrialisierung - die Anfänge der Firma Krupp -, die elektromagnetische Telegrafie, in Göttingen von Gauß erfunden, in unmittelbarer Nachbarschaft jener berühmten sieben Professoren, die gegen einen königlichen Verfassungsumsturz protestierten, weisen weit voran ins späte 19. Jahrhundert. Schön auch, dass Bleek der Kultur, vor allem der Musik, so großen Raum gibt. Mit Webers "Freischütz" und der Wiederentdeckung von Bachs Matthäus-Passion durch Felix Mendelssohn Bartholdy kommen zwei bis heute populäre Leistungen vors innere Ohr - allerdings hätte man auf diesem Gebiet auch an Beethovens neunte Symphonie und Schuberts romantisches Kunstlied denken können.

Ein erzählerischer Bilderbogen also, der damit vom 19. Jahrhundert entwickelte Erzählformen aufgreift, nicht unähnlich den "Bildern aus der deutschen Vergangenheit" Gustav Freytags. Dass Bleeks eigenes Gebiet die Geschichte des politischen Denkens ist - er ist Verfasser einer großen Biografie von Friedrich Christoph Dahlmann, einem der führenden politischen Denker der Zeit, Teil der "Göttinger Sieben" und Mitautor der Verfassung von 1848 -, bemerkt man durchaus, jedoch zeigt es sich nicht in einer Überproportion.

Was unterbelichtet bleibt, ist die politische Geschichte im engeren Sinn. Auch wer sich auf Deutschland beschränkt, hätte den Deutschen Bund als integralen Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur zeigen können. Vergleichende Blicke auf die Nationalbewegungen in Italien, Griechenland und Polen hätten der Epoche noch mehr zwiespältig flackernde Zukunftsspannung verliehen. Wenig erfahren wir in diesem grundprotestantischen Buch vom interessant auflebenden Katholizismus der Epoche (der Kirchenstaat war 1815 wiederhergestellt worden), und damit von der politischen Seite der Romantik, die Bleek mit August Wilhelm Schlegels Berufung an die neue Bonner Universität allzu karikaturhaft auftreten lässt.

Trotzdem: Diese Darstellung ist unterhaltsam, vorzüglich zu lesen, lehrreich, eine Art Hausbuch. Die Grundspannung der Epoche zwischen der Intimität einer guten alten Zeit und bedrohlichen Fortschrittshorizonten zeigt ein Muster der Moderne: Verzeitlichung und Geschichtlichkeit haben nach der Epoche der Revolution die politische Sphäre verlassen und sind in den Alltag eingewandert. Ihn beherrschen sie bis heute.

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