Wildtiere in Deutschland:Wo ist Minerva, wenn man sie braucht?

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Zum Abschuss freigegeben? Feldhase, weithin sichtbar. (Foto: dpa)

Wenn es schlecht läuft, werden Rebhühner und Feldhasen nur in der Literatur oder als Fabelwesen überleben. Landeskultur? Was für ein verlogener Begriff

Von Rudolf Neumaier

Eine Autofahrt übers Land kann ziemlich eintönig sein. Man sieht die Kirchtürme vor lauter Mais nicht mehr, und dass hinter den Plantagen Dörfer stehen, ist allenfalls per Navigationsgerät erkennbar. Nie wirkt die Landeskultur brutaler als in den Wochen des prallen Maises. Man könnte auch sagen: Nie ist die Landwirtschaft sichtbarer als in dieser Zeit. Landwirtschaft und Landeskultur, das ist beim Blick auf die grünen Maisschluchten das Gleiche.

Wer bei einer solchen Autofahrt zur Unterhaltung der Insassen mal wieder Märchen hört und sich daran freut, wie sprachverliebt der Schauspieler Matthias Brandt die Brüder-Grimm-Geschichte "Der gestiefelte Kater" vorträgt, muss mit Zwischenfragen jüngerer Mitfahrer von der Rückbank rechnen. "Was sind denn Rebhühner?" Der König aß in diesem Märchen gern Rebhühner, der listenreiche Kater besorgte ihm welche. Was Rebhühner sind?

Das Problem des Rebhuhns: Im Fliegen ist es äußerst ungeschickt

Tja, liebe Kinder, wo ihr hier diese grünen Pflanzenmonsterwände seht, waren früher mal Wiesen und Äcker. Und dazwischen gab es Sträucher und Feldraine. Und an diesen Feldrainen lebten Rebhühner, sie waren eine Allerweltsvogelart. Ihren zoologischen Namen Perdix perdix haben sie aus der griechischen Mythologie. Ovid beschreibt dessen Entstehung in den "Metamorphosen": Der Tüftler Daedalus stößt in mörderischer Absicht und aus blankem Neid seinen im Tüfteln viel talentierteren Neffen Perdix vom Dach der Akropolis, doch die Göttin Minerva verleiht dem Jüngling Flügel und Federn, sodass Perdix in Gestalt eines Vogels überlebt.

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Im Fliegen ist er äußerst ungeschickt. Das ist das Problem des Rebhuhns, dieses schönen abendländischen Kulturvogels aus Ovids und Grimms Märchen. Denn könnte es richtig fliegen, wäre es der abendländischen Landeskultur längst entflohen oder es hätte sich angepasst wie die Rabenkrähe, die sich exponentiell vermehrt. Dem Rebhuhn fehlen Feldraine zum Brüten, und wo es sie noch gäbe, machen die meisten Bauern sie platt, das nennen sie dann "Feldrainhygiene". Und ihm fehlt die Nahrung, weil dem Gifteinsatz in der Landwirtschaft die Insekten zum Opfer fielen, deren Larven Rebhuhnküken verzehren, und zwar für ihr Leben gern.

Perdix bräuchte mal wieder eine Metamorphose. Wo ist Minerva, wenn man sie braucht?

Das Rebhuhn wird nur in wenigen Reservaten überleben. Und wenn es ganz schlecht läuft, überdauert es allein in der Literatur. Als Fabelwesen. Mit dem Feldhasen verhält es sich ähnlich: Auf der Roten Liste bedrohter Arten ist er als gefährdet eingestuft, Tendenz negativ. Und im Wald ist es nicht anders als draußen auf dem Land: Hier verschwinden auch die letzten Hasel- und Auerhühner.

Es gibt keine Natur- oder Artenschutzgesetze, die diesen Wildtieren bislang geholfen hätten. Sie bleiben wirkungslos, solange die Landwirtschafts- und Forstgesetze ökonomisch ausgerichtet sind. Baden-Württemberg hat im Juli ein Landwirtschafts- und Landeskulturgesetz verabschiedet, das Landeskultur und Landesnatur in Einklang zu bringen versucht. Doch in den meisten Landwirtschaftsgesetzen spielt Ökologie eine untergeordnete Rolle. Das Landwirtschaftsgesetz des Bundes zum Beispiel legt in Paragraf 1 fest, die Landwirtschaft habe "die bestmögliche Versorgung mit Ernährungsgütern zu sichern", andererseits sei "ihre Produktivität zu steigern".

Kein Mensch zweifelt an der Bedeutung der Lebensmittelversorgung, für die Bauern zuständig sind. Aber muss wirklich um jeden Preis die Produktivität gesteigert werden? Die Landwirtschaft wuchert über sich hinaus, sie wird monströs, die Maschinen, die Felder, die Maispflanzen, die Betriebe. Solange die Landwirtschaftspolitik diese Prioritäten setzt, werden auch die Probleme monströser - und der Effekt von Umweltpolitik wird überschaubar bleiben.

Jahrzehntelang hat der Vorrang der bedingungslosen Produktivitäts- und damit der Profitmaximierung das bäuerliche Selbstverständnis geprägt. Wer lässt sich schon von ein paar Schmetterlingszählern reinreden in seine Feldhygiene, wenn er doch das ganze Land ernährt? Ackerrandstreifen, Düngebeschränkungen? Solche Vorgaben sind für viele Bauern ein Affront.

Ob niederbayerisches Rebhuhn oder brasilianischer Regenwald: Beide sind Opfer ihrer Landeskulturen

Deshalb die leblosen abgehäckselten Feldraine. Deshalb die Maisschluchten möglichst bis zur Straße. Dabei wird ein bedeutender Teil des Maises bekanntlich nicht für Nahrungsgüter produziert, sondern für die Energieerzeugung, weil das für die Bauern rentabler ist. Energiemais bringt oft mehr Geld als Futtermais, und das Futter, das ihr Vieh in der landwirtschaftlichen Fleischproduktion braucht, ist in Form von Soja aus Südamerika günstiger zu beziehen. Und so steht ein niederbayerisches Rebhuhn mit dem brasilianischen Regenwald, der für den Sojaanbau gerodet wird, in enger Beziehung. Beide sind Opfer ihrer Landeskulturen. Hier und dort ist die Kultivierung von Natur völlig aus dem Ruder gelaufen.

Ist das deutsche Landwirtschaftsgesetz erst mal nur Ausdruck gnadenloser Rücksichtslosigkeit gegenüber Geschöpfen der einstmals freien Natur, vermittelt etwa das Bayerische Waldgesetz blanken Zynismus. Es beinhaltet die Formel "Wald vor Wild", also Pflanze vor Tier. Als ob sich ein Teil eines Ökosystems gegen einen anderen ausspielen ließe. Ökologen und Tierschützern sträuben sich bei solchen aus rein ökonomischen Erwägungen geschraubten Formeln die Haare.

Kommt man aus den Maisschluchten heraus, schaut man in die monotonen Wälder oder in Luftlöcher, die einmal Forste waren. Forste aus reinen Fichtenbeständen vor allem. Das Land war hier jahrzehntelang als Monokultur kultiviert. Wo sich Buchen zwischen die Fichten pressten, propagierten die Förster die Buchenvernichtung. Denn Buchen nähmen den Fichten das Licht, das habe das Fichtenwachstum verzögert - und womöglich Erträge beeinträchtigt. Schaut man, was den Forstwirten gerade für die von der Bundesregierung geforderte Wiederbewaldung der Kahlflächen einfällt, blickt man wieder auf ausgedehnte Monokulturen. Man probiert's halt mit anderen Baumarten. Wie der Mais einst aus Mexiko importiert wurde, werden Douglasien nun aus Amerika importiert. Ob das gutgeht?

"Der Wald zeigt, ob die Jagd stimmt"

Wald vor Wild - das klingt wie Mais vor Rebhuhn und wie Douglasie vor Reh. Nicht minder zynisch ist der Leitspruch eines Jagdverbandes, der sich ökologisch nennt, aber vor allem die Interessen von Waldbesitzern und Staatsförstern vertritt, die auf ihren neuen Plantagen kein Geld für den Schutz der Pflänzchen vor Hirschen und Rehen ausgeben wollen und deren Populationen durch Abknallen reduzieren wollen. Man nennt das "anpassen". Der Leitspruch lautet: "Der Wald zeigt, ob die Jagd stimmt."

Dann muss man aber auch sagen können: "Die Rebhuhn-Populationen zeigen, ob die Landwirtschaft stimmt." Und: "Die Haselhuhn-Vorkommen zeigen, ob die Forstwirtschaft stimmt."

Zoologen wie Josef Reichholf, Ökologen wie Friedrich Reimoser und sogar Förster wie Peter Wohlleben predigen schon lange, wie sinnlos der Feldzug der Forstökonomen gegen Huftiere im Wald ist. Eine vor wenigen Wochen erschienene Studie über "Nahrungsnetze im Schweizerischen Nationalpark" der Schweizer Biologen Martin Schütz, Pia Anderwald und Anita Risch bestätigt sie eindrücklich und unterstreicht, dass das forstwirtschaftliche Mantra von bösen Hirschen und Rehen überholt ist, auch wenn es sogar von Naturschutzverbänden und den Grünen rezipiert wird. Waldverjüngung sei trotz hoher Dichte an Huftieren möglich, so formulieren die Schweizer: "Weder die Verjüngungsdichte noch die Vielfalt an Baumarten, die an der Verjüngung beteiligt sind, korrelieren mit den Huftierbeständen."

Kurioserweise gibt es in Deutschland ein Gesetz, das Land- und Forstwirten Arten- und Wildtierschutz schon auferlegte, als der Begriff "Umweltpolitik" noch nach Utopie klang: Es ist das deutsche Jagdgesetz! Jeder Grundbesitzer hat auf seiner Fläche das Jagdrecht inne - was nicht gleichbedeutend ist mit dem Jagdausübungsrecht. Und mit dem Jagdrecht ist laut Jagdgesetz die "Pflicht zur Hege verbunden". Die Hege wiederum hat zum Ziel "die Erhaltung eines den landschaftlichen und landeskulturellen Verhältnissen angepassten artenreichen und gesunden Wildbestandes sowie die Pflege und Sicherung seiner Lebensgrundlagen".

Die Lebensgrundlagen von Hasen und Rebhühnern wurde großflächig zerstört

Was den Hasen und die Rebhühner, was Hasel- und Birkhühner angeht, haben sich die deutschen Land- und Forstwirte demnach über Jahrzehnte hinweg gesetzeswidrig verhalten. Sie haben die Lebensgrundlagen dieser Arten großflächig zerstört. Verstöße gegen Paragraf 1 des Jagdgesetzes sind jedoch nicht strafbewehrt. Sonst wären die Jagdverbände und die Jäger, die von den Bauern das Recht zur Ausübung der Jagd gepachtet haben, gleich mit zur Rechenschaft zu ziehen. Sie schauten tatenlos zu. Für Rehe und Hirsche werden sie hoffentlich beherzter kämpfen. Schließlich können sie sich auf den im Grundgesetz verankerten Tierschutz berufen und auf das Tierschutzgesetz, wonach es für das Töten von Tieren einen vernünftigen Grund braucht. Wirtschaftliche Interessen fallen nicht darunter, wenn sich Schäden anders vermeiden ließen.

Es gab einmal eine Zeit, da waren Forstleute hochgradige Romantiker. Der Lüneburger Jagd- und Naturdichter Hermann Löns schaffte es sogar in Kindlers Literaturlexikon. So weit hat es Oskar von Riesenthal zwar nicht gebracht, aber seine Verse sind heute bekannter als Löns' Schwulstergüsse. "Das ist des Jägers Ehrenschild, dass er beschützt und hegt sein Wild" - das steht auf dem Etikett jeder Jägermeister-Flasche. Der preußische Revierförster Riesenthal wäre heute ein Außenseiter unter seinen Kollegen, belächelt und verhasst.

Riesenthals Forstlyrik beschwor die Jäger, ihr Wild vor dem Menschen zu schützen, im Ernstfall die Todesqual zu verkürzen und vor allem den Schöpfer im Geschöpfe zu ehren. So pathetisch die drei Strophen klingen, sie bringen das zum Ausdruck, was man als Ethik im Umgang mit wild lebenden Tieren bezeichnen kann.

Ethik - man fragt sich bei der Fahrt durch die Kulturödnis, die unsere Landschaft größtenteils geworden ist, wie viel Ethik den Landeskulturmachern, den Bauern und Förstern, in der Ausbildung vermittelt wird. Jedenfalls wünscht man sich, dass die Politik weniger auf Agrar- und Forstökonomen hört und mehr auf Biologen und Ökologen. Die haben einen neutraleren, besseren Überblick über die Schöpfung und am ehesten eine Idee, wie sich die Geschöpfe retten lassen.

© SZ vom 22.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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