Wikipedia-Fälschungen:Im Daunenfederngestöber

Erfundene Fische, Neil Armstrongs Depression und Kujaus Geschichtsklitterung: Wie fälschungssicher ist Wikipedia? Wir haben falsche Fakten in Wikipedia-Artikeln untergebracht - mit bedenklichem Erfolg.

Alex Rühle

Es ist so herrlich einfach. Ein Klick auf den Button "Seite bearbeiten" und man ist Herr über die Begriffe der Welt: Lässt bei Ronald Reagans Vereidigung schwule Bands aufspielen. Setzt erfundene Fische in entlegenen Seen aus.

Wikipedia, Screenshot

Eine der meistbesuchten Internet-Seiten weltweit.

(Foto: Screenshot: sueddeutsche.de)

Lässt den ägyptischen Schriftsteller Nagib Machfus Kolumnen im Guardian schreiben. Oder Neil Armstrong bei seinem Mondspaziergang eine kleine Depression ereilen...

Vandalismus ist das Hauptproblem der Wikipedia, des Online-Lexikons, bei dem jeder mitschreiben kann. Wir auch: Fünf Saboteure haben sich angemeldet und Einträge gefälscht.

Quelle, aus der alle schöpfen

Um selbst zu sehen, wie sicher die Quelle ist, aus der heute fast alle ihr Wissen beziehen. Im Internet-Ranking-Service Alexa, der die meistbesuchten Seiten auflistet, schiebt sich Wikipedia jeden Monat weiter vor; momentan liegt die Enzyklopädie auf Platz 15. Antarktis, Strukturalismus, Dummheit -wer bei Google einen dieser Begriffe eingibt, bekommt als ersten Link den Eintrag auf Wikipedia.

Es ist ja auch eine großartige Erfindung: Die größte Enzyklopädie der Welt, zusammengetragen von uns allen. Jeder weiß was, also soll auch jeder mitbauen dürfen am demokratischen Weltwissensspeicher.

In über 220 Sprachen wurden mehr als fünf Millionen Einträge versammelt. Die englischsprachige Seite enthält über 1,4 Millionen Artikel, die deutsche 475000. Nur die chinesische Volkswirtschaft und der Aktienkurs von Google sind in den vergangenen fünf Jahren schneller expandiert.

Im Daunenfederngestöber

Die schiere Masse ist freilich auch das Hauptproblem von Wikipedia. Das zentrale Thema der Jahresversammlung im vergangenen August in Harvard brachte Jimmy Wales, der Mitbegründer und die oberste Instanz der Wikipedia in seinem Vortrag auf den Punkt: "Wir sollten mehr auf die Qualität als auf das Wachstum unserer Beiträge achten."

Nun ist Deutschland in Sachen Qualität Vorreiter. Die deutschen Artikel ragen im internationalen Vergleich heraus. Nirgends ist die Wiki-Gemeinde so nah am objektiven Enzyklopädie-Leitbild, früh schon einigte man sich darauf, dass "Fan-Artikel" (etwa Beiträge zu jeder Nebenfigur des Star-Wars-Universum) aus der Enzyklopädie herausgehalten werden sollen.

Wuchernde Wissenswülste

Trotzdem ähnelt auch die deutsche Wikipedia diesen deformierten Weltkarten, bei denen unterschiedliche Reichtums- oder Niederschlagsverteilung durch geographisch analoge Ländergrößen angegeben werden: In der Wikiwelt wuchern in abseitigen Gebieten riesige Wissenswülste. Es gibt 39 Artikel zur Kategorie Computerspielfigur.

Was wie eine charmante Schrulle wirkt, ist für den IT-Experten Ulrich Fuchs eines der Hauptprobleme des Systems: "Inhalte und Autoren verstärken einander gegenseitig. Wo viel über esoterische Themen zu finden ist, tummeln sich auch viele Esoteriker. Und die schleppen oft Fehler in die Enzyklopädie ein."

Fuchs hat zwei Jahre lang bei Wikipedia mitgearbeitet, Neueinträge geschrieben, Fremdeinträge verbessert, und später, als "Administrator", Artikel gelöscht und Auseinandersetzungen zwischen Leuten, die sich in "Edit-Wars", also endlosen Begriffsstreitigkeiten ineinander verbissen haben, geschlichtet.

Randale, Vandale, Wundaale

Viele kontinuierliche Mitarbeiter setzen Begriffe auf sogenannte Beobachtungslisten: Sobald an dem Eintrag etwas geändert wird, werden sie verständigt und schauen sich die Änderung an. Was ja oft gut ist.

Andererseits glauben dadurch oftmals einzelne Autoren eine Art Lufthoheit über die Einträge zu haben. Viele Experten gaben ihre Mitarbeiter entnervt auf, weil sie die Streitereien mit anderen, hartnäckigeren Wikingern schnell leid waren.

Larry Sanger, der Mitbegründer der Wikipedia, verließ aus diesem Grund schon 2001 das Unternehmen. Er habe es "nicht mehr ertragen, dass Laien alles mit Hohngelächter kommentieren dürfen, was ein Experte sagt", schrieb er im Rückblick. Für ihn ist die Anonymität der Wikipedia ihr größtes Problem, ziehe sie doch Leute an, die "Randale machen wollen".

Im Daunenfederngestöber

Unter dem Begriff "Vandalismus" steht zu lesen, es gelinge der Community, "die durch 'Vandalen' verursachten Schäden weitestgehend wieder rückgängig zu machen." Nun ja. Von unseren 17 Anfang Oktober gefälschten Einträgen wurden 12 entdeckt. Fünf aber standen bis zum Abend noch in der Wikipedia, immerhin ein Viertel.

Nun waren all das bewusst harmlose Fehler. Im November vergangenen Jahres aber bemerkte der US-Journalist John Seigenthaler zufällig, dass es einen Eintrag über ihn gab, in dem es hieß, er sei "direkt in die Ermordung sowohl von John als auch von Bobby Kennedy verwickelt gewesen". Der ehemalige Kennedy-Berater ließ den rufmörderischen Eintrag umgehend löschen.

Dummerweise stand er da aber schon vier Monate auf den Wikipedia-Seiten. Andere Seiten wie Reference.com hatten die "Information" längst übernommen.

Wiki und Brittanica

In einem Text, den Seigenthaler Wochen später über die Wirkmacht dieser Verleumdung und sein vergebliches Bemühen, über die Wikipedia an den Verursacher dieser Fälschung heranzukommen, verglich er Falschmeldungen mit "Daunenfedern, die sich, wenn man ein Kissen aufschlitzt, im Zimmer verbreiten und kaum mehr einsammeln lassen. Für mich ist dieses Kissen die Metapher für die Wikipedia."

Das mit den Daunenfedern können die Mitarbeiter der Encyclopedia Britannica nur bestätigen. Im vergangenen Jahr veröffentlichte das Magazin Nature eine vergleichende Studie über die Zuverlässigkeit der Wikipedia und der Britannica.

Seither wird in den Medien immer wieder kolportiert, die Wissenschaftler hätten in jedem Wikipedia-Eintrag durchschnittlich vier Fehler gefunden und in jedem Eintrag der Britannica drei.

Im Daunenfederngestöber

Dass die Britannica einen Gegentext verfasste, in dem die Studie in der Luft zerrissen wurde - "die Testproben sind so schütter und die angeblichen Gutachten selbst so voller Fehler, dass die Studie vollkommen wertlos ist"- , fiel nur wenigen auf.

Außerdem wurden damals viele Britannica-Artikel mit vorsichtigen Einwänden kritisiert wie: "Etwas unglücklich gewählter Begriff" oder "Vielleicht geht es etwas zu weit, wenn..."

Vernichtung und Totalverriss

Die Wikipediaeinträge wurden dagegen in den Anmerkungen der Gutachter oftmals geradezu vernichtet: "Keine Ahnung, was die folgende Bemerkung bedeuten soll." "Über dem ganzen Absatz liegt ein Schatten Jurassic Park." Nature zählte damals aber vorsichtige Anmerkungen genauso als ganze Fehler wie Totalverrisse.

Ulrich Fuchs und Larry Sanger fühlten sich bei der Wikipedia irgendwann wie Erziehungsberechtigte in den Geschichten um den kleinen Nick: Während da die Eltern immer hilflos herumschimpfen, wuseln die Kinder um sie herum, kümmern sich einen Dreck um alle vereinbarten Regeln und haben einen Riesenspaß daran, die jeweilige Gesamtsituation immer weiter in Richtung Totalentropie zu manövrieren.

Fuchs hat immer wieder beobachtet, wie anfänglich korrekte wenn auch kurze Einträge mit jeder neuen Ergänzung fehlerhafter wurden, "bis sie total verfallen sind".

Gegengelesen, geprüft

Larry Sanger startet unter dem Titel Citizendium gerade ein eigenes Wiki-Projekt, in dem Redakteure die Artikel gegenlesen und als "geprüft" edieren. Um sein Projekt ins Rollen zu bringen, will Sanger aber erstmal alle Wikipedia-Artikel übernehmen.

Ulrich Fuchs war konsequenter. Nach seinem Ausstieg bei Wikipedia gründete er Wikiweise. "Wir wollten zuerst auch Wikipedia-Artikel kopieren und sukzessive redaktionell bearbeiten. Aber die Prüfung der Wikipedia-Aussagen auf Korrektheit dauert länger, als die Artikel von Grund auf neu zu erstellen."

Fuchs' Problem ist, dass es bislang gerade mal 3000 wikiweise Artikel gibt. Um überhaupt mitmachen zu dürfen, muss man sich mit Namen und E-Mailadresse registrieren. So fehlt dem Projekt der wilde, freie Appeal der Wikipedia.

Ganz so frei wird die Wikipedia aber selbst nicht bleiben. Von Ende des Jahres an sollen auf der deutschen Seite neben den wildwüchsig wuchernden Versionen offiziell "geprüfte Versionen", an denen man nichts mehr ändern kann, eingeführt werden.

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