Wikileaks und die Sprache der Diplomaten:So nicht! Aber wie dann?

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"Wir hatten einen offenen Meinungsaustausch" heißt in Diplomatensprache nichts anderes als: Es gab furchtbaren Streit. Die Veröffentlichung von Wikileaks wirft auch ein Licht auf die Frage, wie sich Diplomaten ausdrücken sollten.

Michael Bothe

Die Veröffentlichung von Wikileaks wirft auch ein Licht auf die Frage, wie denn Diplomaten sprechen oder sprechen sollten. So nicht! Aber wie dann?

Ob Muammar Gaddafi, Nicolas Sarkozy, Angela Merkel oder Kim Jong-il, ob Hamid Karzai, Vladimir Putin, King Abdullah, oder Hugo Chavez,  ob Mahmoud Ahmadinejad, Wen Jiabao, Silvio Berlusconi oder David Cameron (von oben links nach unten rechts): Sie alle zittern nun vor Wikileaks. Aber wie sollten ihre Diplomaten sprechen, wenn nicht so? (Foto: Reuters)

Diplomatische Sprache ist dadurch gekennzeichnet, dass Vieles nicht und Manches nicht deutlich gesagt wird. "Wir hatten einen offenen und fruchtbaren Meinungsaustausch" heißt im Klartext "Wir haben uns furchtbar gestritten und konnten uns nicht einigen".

Diese diplomatische Semantik hat Gründe, gute und weniger gute. Dazu ein paar Beispiele.

Nützlich bis problematisch

Im Zuge der Entspannungspolitik wollten die vier Besatzungsmächte 1970/71 den Zugang nach West-Berlin und die dortige Präsenz von Einrichtungen der Bundesrepublik auf eine einvernehmliche Grundlage stellen. Man wollte nicht mehr jede Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten in Berlin zum Gegenstand west-östlichen Imponiergehabes machen. Dass die Besatzungsmächte das regeln konnten, war unstreitig. Aber worauf bezog sich die Regelungsbefugnis? Auf Groß-Berlin (so die Westmächte) oder auf Westberlin (so die Sowjetunion). Das wollte man an dieser Stelle nicht entscheiden. So wird der Anwendungsbereich des Abkommens umschrieben als "das betreffende Gebiet". Ein klassischer Formelkompromiss, der es erlaubt, um einer praktischen Regelung willen eine Grundsatzfrage auszuklammern, ein Beispiel für nützliche Zweideutigkeit.

So klar liegt der Nutzen nicht immer auf der Hand. Nachdem Israel 1967 die Westbank und den Gaza-Streifen besetzt hatte, erließ der UN-Sicherheitsrat die Resolution 242, in der er als Grundsatz der zu treffenden Regelung unter anderem festlegte: "Abzug israelischer Streitkräfte aus Gebieten, die im jüngsten Konflikt besetzt wurden". Nicht aus allen besetzten Gebieten? Im englischen Text wurde der bestimmte Artikel vor "Gebieten", der das klar gemacht hätte, weggelassen. Im Französischen ist nicht klar, ob es sich um den bestimmten oder den unbestimmten Artikel handelt, im Russischen gibt es den Unterschied nicht und der spanische Text gebraucht den bestimmten Artikel.

Israel beruft sich darauf, dass Gegenstand der Verhandlungen der englische Text war und dass dort das Weglassen des bestimmten Artikels bewusst erfolgte, um eben keine Pflicht zum Abzug aus allen besetzten Gebieten festzulegen. Diese Auslegung wird von arabischer Seite bestritten. Damit war der Streit um die Grenzen des zukünftigen palästinensischen Staates begonnen. Eine klare Regelung der Frage wäre, je nachdem in welcher Richtung sie gegangen wäre, am Widerstand der USA oder der Sowjetunion gescheitert. Die internationale Gemeinschaft schiebt das Problem bis heute vor sich her - keine nützliche Zweideutigkeit.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, welche schwammigen Begriffe inzwischen zum Standardrepertoire gehören.

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Der Nahost-Konflikt bleibt auch weiter von zweideutigen Texten gekennzeichnet. Das jüngste Beispiel ist die Äußerung des Sicherheitsrats zu dem gewaltsamen Aufbringen einer Hilfs- oder Protestflotte (wie man sie immer nennen mag) durch Israel Ende Mai dieses Jahres. Die im Sicherheitsrat abgestimmte Erklärung des Vorsitzenden verlangt "eine rasche, unparteiische, glaubwürdige, transparente Untersuchung im Einklang mit internationalen Standards". Das Adjektiv "unabhängig" fehlt bewusst. Hintergrund ist ein Streit darüber, ob eine internationale Untersuchung verlangt werden sollte (so die Türkei und arabische Staaten) oder ob eine israelische Untersuchung den Anforderungen genügen würde (so die USA). Zweideutigkeit ja, aber nützlich?

Inzwischen gibt es eine vom Generalsekretär eingesetzte internationale Kommission mit Beteiligung Israels und der Türkei, deren Verhältnis zu der israelischen Untersuchungskommission offenbar noch nicht so ganz geklärt ist. Wie sinnvoll dieses Verfahren ist, bleibt abzuwarten. Die Perplexität des Betrachters wird freilich noch erhöht: Unabhängig von der Politik des Sicherheitsrats (in dem die fünf ständigen Mitglieder ein Vetorecht haben) und des Generalsekretärs, der vor allem auf den Sicherheitsrat Rücksicht nimmt, hat der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, in dem andere Mehrheitsverhältnisse herrschen, eine eigene Untersuchungskommission eingesetzt, mit der Israel natürlich nicht zusammengearbeitet hat. Sie stützt ihren für Israel recht peinlichen Bericht auf die Aussagen der zahlreichen bei der Aktion festgenommenen Personen. Da sprechen die Vereinten Nationen also mit zwei unterschiedlichen Stimmen, ein Befund, der dem Ansehen der Organisation nicht gerade zuträglich ist.

Man nimmt es nicht so genau

Das Zögern, Gewolltes klar auszudrücken, führt auch zu Euphemismen. Als der Irak 1990 in Kuwait einmarschierte, begann der Sicherheitsrat die Praxis, im Rahmen seiner Konfliktregelung Militäreinsätze von Staaten zu autorisieren. Zunächst verlangte der Sicherheitsrat den Abzug der irakischen Truppen. Dann ermächtigte er Mitgliedstaaten, "alle notwendigen Mittel einzusetzen, um die Resolution 990 ( die den Rückzug verlangt hatte, Anm. d. Red.) aufrecht zu erhalten und durchzuführen". Was damit gewollt war, war klar. Es sollte ein Militäreinsatz gegen den Irak zur Befreiung Kuwaits genehmigt werden.

Warum wird das nicht auch ausdrücklich gesagt? Soll hier eine unaufmerksame Öffentlichkeit für dumm verkauft werden? Scheuen sich die Diplomaten, bewaffnete Gewalt ausdrücklich zu legitimieren? Wie auch immer, die Formulierung einer Ermächtigung, "alle verfügbaren Mittel einzusetzen", ist zum Standardrepertoire des Sicherheitsrats geworden.

Meist nimmt es der Sicherheitsrat nicht so genau mit der Festlegung, wer genau ermächtigt werden soll. Es müssen ja auch noch Koalitionen geschmiedet werden. Oft ist aber aus dem Gesamtzusammenhang ersichtlich, wer gemeint ist. Da wird etwa einem Staat für seine Bereitschaft gedankt, Truppen zu stellen, Regionalorganisationen werden ausdrücklich genannt. Bei der Ermächtigung für die "Sicherheitspräsenz" im Kosovo seit 1999 wird bestimmt, dass die Truppe "unter wesentlicher Beteiligung der NATO" aufgestellt werden sollte. Die Formel begünstigt die westlichen Staaten, öffnet aber zugleich die Tür für die (damals) notwendige Beteiligung Russlands.

Bei der Ermächtigung zum Vertreiben des Irak aus Kuwait 1990 stellte sich ein delikates Problem für die Beteiligung: Sollte hier nebenbei eine Legitimation eines neuen israelischen Angriffs auf den Irak gewährt werden? Natürlich nicht, das hätte die für diesen Konflikt so wesentliche arabisch-amerikanische Allianz erschüttert. Sollte man die Ermächtigung also für alle Staaten außer Israel erteilen? Das wäre zu undiplomatisch gewesen. Also ging das Mandat an Mitgliedstaaten, "die mit der Regierung von Kuwait zusammenarbeiten". Das tat Israel natürlich nicht, und es hätte sich somit nicht auf die Resolution berufen können.

Die internationale Diplomatie ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Steuerungsmechanismen, deren die Ordnung einer globalisierten Gesellschaft bedarf. Bestandteil des diplomatischen Werkzeugs ist ein Jargon, der vor allem Härten vermeidet. Das hilft zur Kommunikation auch in schwierigen Situationen. Soweit es eben darum geht, sind die diplomatischen Sprechgewohnheiten nützlich.

Aber die mangelnde Klarheit ist kein Selbstzweck, nach ihrem Sinn im konkreten Fall muss immer mal wieder gefragt, der Jargon muss hinterfragt werden.

Der Autor hat an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt Völkerrecht gelehrt, ist Präsident der Internationalen humanitären Ermittlungskommission und war in viele internationale Verhandlungen und Prozesse involviert.

© SZ vom 01.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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