In einem offenen Brief erheben Schauspieler und Mitarbeiter des Wiener Burgtheaters Vorwürfe gegen den früheren Intendanten Matthias Hartmann. Dieser habe während seiner Direktion von 2009 bis 2014 "eine Atmosphäre der Angst und Verunsicherung erzeugt". Es habe unter seiner Leitung keinen "verantwortungsvollen Umgang" mit "Abhängigkeiten" gegeben. Stattdessen ist von sexistischen und rassistischen Herabwürdigungen und Machtgebaren zu lesen. Und als Folge davon: eine "seit damals nachwirkende Erstarrung und Vereinzelung", obwohl sich unter der neuen Direktorin Karin Bergmann die Atmosphäre geändert habe.
Der Brief, der der SZ vorliegt, erscheint an diesem Wochenende in der österreichischen Zeitung Der Standard. Er wurde von 60 Ensemblemitgliedern und Mitarbeitern quer durch alle Abteilungen unterschrieben, Frauen wie Männern. Die Unterzeichner geben sich an den beklagten Missständen eine Mitschuld, schließlich hätten sie durch ihr "Stillhalten" und "Wegducken" das Problem "wachsen lassen". Erst in jüngster Zeit hätten sie, nicht zuletzt ermutigt durch die öffentliche Debatte (und Nachfragen der SZ), Gespräche untereinander geführt. "Für uns ist das ein Startpunkt im Bemühen, ein Klima im Ensemble, im ganzen Burgtheater zu schaffen, das sich auf Respekt und fairen Umgang gründet", heißt es in dem Brief. Die Künstler und Techniker wollen eine Grundsatzdiskussion über Hierarchiestrukturen an Theatern einleiten.
Misshandlungsvorwürfe:"Niemand kam auf die Idee, das zu stoppen"
In einem harschen Facebook-Post kritisiert der Regisseur Simon Verhoeven seinen Kollegen Dieter Wedel und schämt sich für die Mechanismen der Filmbranche.
Hartmann sei kein Einzelfall, heißt es. Es gebe viele Regisseure, die "Machtmissbrauch, Demütigung und Herabwürdigung als probates Mittel in der Arbeit" ansähen und "durch das eigene künstlerische Genie" entschuldigten. Auch wolle man die Vorwürfe nicht auf eine Stufe mit denen stellen, die im Zuge der "Me Too"-Debatte gegen Dieter Wedel und Harvey Weinstein erhoben wurden: "Wir reden von einem Klima, nicht von schweren Straftaten."
"Ein dunkelhäutiger Mitarbeiter wurde in seiner Abwesenheit als ,Tanzneger' bezeichnet"
Zum Arbeitsklima unter Hartmann gehörten laut dem Brief "Fragen zu sexuellen Praktiken, Rassismen und eine Diffamierung von Homosexualität". Wörtlich heißt es: "Eine Probe konnte dadurch unterbrochen werden, dass eine fast ausschließlich weibliche Besetzung von Matthias Hartmann gefragt wurde, ob sie beim Oralsex das Sperma schlucken würde und ob das einer kalorienbewussten Ernährung widerspräche. Ein dunkelhäutiger Mitarbeiter wurde in seiner Abwesenheit als ,Tanzneger' bezeichnet. Ungewollte Berührungen wie ein Schlag auf den Hintern oder Umarmungen wurden zahlreichen Mitarbeiterinnen zuteil. Kollegen*innen der Technik und der Multimedia-Abteilung wurden von ihm regelmäßig als ,Vidioten', ,Trottel', ,Schwachmaten', ,Scheiß-Technik' bezeichnet." Es sei immer wieder vorgekommen - auch bei anderen Regisseuren -, dass Personen, teilweise über den gesamten Probenzeitraum, also über Wochen und Monate hinweg, "herausgepickt" und vor den anderen Mitarbeitern kontinuierlich gedemütigt wurden. Diejenigen, die widersprachen, seien als "verklemmt, prüde und humorlos" hingestellt worden. Ihnen haftete der "Nimbus von Dauerempörten" an.
Von der SZ mit den Vorwürfen konfrontiert, streitet Hartmann diese nicht ab. In einer ausführlichen E-Mail gibt er zu, "den Witz mit der kalorienbewussten Eiweißdiät im Zusammenhang mit Spermaschlucken" erzählt zu haben, auch habe er "bestimmt auch schon einen Witz über Homosexuelle" gemacht. Dennoch zeichne der Brief ein "völlig falsches Bild". Hartmann schreibt, er habe schon immer polarisiert: "Ich bin groß, durchsetzungsstark und ungeduldig. Ich habe es stets versucht zu vermeiden, mit der Macht zu spielen, die mir zu Gebote war. Das ist mir vielleicht nicht immer gelungen." Das Theater sei ein Ort, wo Künstler unter hohem Druck und extremen Bedingungen Kunst schaffen. "Dass es dabei oft ruppig zugeht, ist leider wahr. Falls ich dennoch jemanden verletzt oder beleidigt haben sollte, möchte ich mich in aller Form dafür entschuldigen."
Direktor des Wiener Burgtheaters zu werden, des größten deutschsprachigen Sprechtheaters, war für Hartmann, geboren 1963 in Osnabrück, früh das erklärte Karriereziel. Es lief auch alles reibungslos. Von 2000 bis 2005 war er Intendant des Schauspielhauses Bochum, danach am Schauspielhaus Zürich, welches er vorzeitig verließ, als ihm in der Nachfolge von Klaus Bachler die Direktion des Burgtheaters angetragen wurde. 2009 trat er das Amt an. Auf dem Höhepunkt seiner Macht stolperte Hartmann über den Finanzskandal des Hauses, der ein Millionendefizit offenbarte, an dem ihm eine Mitverantwortung angelastet wurde. Im März 2014 wurde ihm fristlos gekündigt, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Im Dezember 2017 hat die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe wegen Bilanzfälschung, Untreue und Steuerhinterziehung fallenlassen.
Wer Burgtheaterdirektor ist, genießt in Österreich Macht und Ansehen. Wer gleichzeitig auch noch der maßgebliche Regisseur am Haus ist, hat dem Personal gegenüber eine doppelte Chefposition: Er ist derjenige, der mit den Schauspielern in einem intimen Arbeits- und Vertrauensverhältnis ein Stück erprobt, kann aber auch Kündigungen aussprechen. Dieses "problematische Abhängigkeitsverhältnis", ist in dem Burg-Brief ebenfalls Thema. Statt hier einer "besonderen Sorgfaltspflicht" nachzukommen, habe Hartmann Kündigungen angedroht und in "Gnadenakten" wieder zurückgenommen. Oder eine Weiterbeschäftigung in Aussicht gestellt, "wenn man bereit wäre, auf die vereinbarte Kündigungsfrist zu verzichten".
Im Burgtheater ist der Brief umstritten. Nicht alle haben ihn unterschrieben. Die Anschuldigungen ereilen Hartmann während der Endproben zu David Bowies Rockmusical "Lazarus", das er am Schauspielhaus Düsseldorf inszeniert. Premiere ist an diesem Samstag.