Wiederverwertung der Popkultur:Widerstand der Hörer

GEORGE HARRISON

Die Bänder waren nie für die Öffentlichkeit bestimmt - und gehören zum Besten, was er je aufgenommen hat: George Harrison mit Gitarre auf einem Archivfoto von 1963.

(Foto: DPA)

Es ist ein gefährliches, da zuweilen desillusionierendes Spiel, in den Archiven der Rockgeschichte zu kramen. Und doch war die Flut der Fundstücke von Interpreten wie George Harrison oder T-Rex nie so groß wie heute. Für das entkräftete Publikum sind sie eine Art Grüne Zone, um der Flut der Neuveröffentlichungen zu entkommen.

Von Andrian Kreye

Wenn George Harrison auf der spärlichen Demo-Aufnahme für "My Sweet Lord" kurz nach dem zweiten Refrain einen Halbton nach oben rutscht, wenn sich seine Stimme ohne das Streichorchester, ohne die Mantra-Chöre, Gitarrenwände und Glockenspiele in tiefe, existenzielle Verzweiflung stürzt, tut sich plötzlich ein Zeitfenster auf.

Als George Harrison die Songskizze mit ein paar befreundeten Musikern aufnahm, war aus dem idolisierten Beatle ein melancholischer Sinnsucher geworden. Er hatte sich rund 40 Meilen westlich von London Friar Park ein düsteres Anwesen mit 120 Zimmern und einem parkähnlichen Garten gekauft. Seine Sinnsuche hatte ihn nach Indien geführt und in die Arbeit an Hunderten von Songs, die es meist nicht auf die Alben der Beatles schafften.

In den dreieinhalb Minuten der ersten "My Sweet Lord"-Skizze kulminiert diese Melancholie und Ratlosigkeit in einem Befreiungsschlag, der im Rückblick stellvertretend für die Ernüchterung steht, die den Verlauf der Rockmusik noch lange prägen sollte. Auf den Aufbruch und die Revolution der Sechzigerjahre folgte eine abgründige Leere, der Harrison wie so viele andere auch mit geborgter Spiritualität und dem Rückzug in die eigene Innerlichkeit entkommen wollte.

Man findet diese Aufnahme auf einer CD mit dem schlichten Titel "Early Takes Volume 1", die im vergangenen Frühjahr erschien. Giles Martin, Sohn der Beatles-Produzenten George Martin, entdeckte die Bänder in der Bibliothek von Friar Park, als er dem Regisseur Martin Scorsese bei der Arbeit an seinem Dokumentarfilm über Harrison half. Die Bänder waren nie für die Öffentlichkeit bestimmt, und doch gehören die zehn Songskizzen auf der CD zum Besten, was Harrison je aufgenommen hat.

Es ist ein gefährliches Spiel, in den Archiven der Rockgeschichte zu kramen. Und doch war die Flut der Fundstücke nie so groß wie heute. Die jüngste Phase dieser Wiederverwertung der Popkultur begann im Herbst letzten Jahres, als das Gesamtwerk von Pink Floyd neu aufgelegt wurde und rasch die obersten Plätze der Hitparaden belegte. Seither verging keine Woche, in der nicht ein gutes Dutzend historischer Alben erschien, fast immer mit reichlich unveröffentlichtem Material.

Komprimierte Emotionen und Zeitströme

Man kann sich natürlich fragen, welches buchhalterische Spatzenhirn auf die Idee kam, dass die Veröffentlichung von Ausschussware irgendeinen Mehrwert darstellen könnte. Gerade weil die Geschichte der Rockmusik von Musikern geschrieben wurde, die nicht zwangsläufig Virtuosen waren, aber meist einen unfehlbaren Instinkt dafür hatten, wie man große Emotionen und Zeitströme auf wenige Minuten voller Wucht und Wirkung komprimiert, taucht nun vieles auf, das die Geschichte eher beschädigt, als beleuchtet.

Es gibt zum Beispiel eine luxuriös aufgemachte Neuauflage des ersten Velvet-Underground-Albums. Auf den originalen Albumversionen verblüfft es auch 46 Jahre später, wie souverän die Hausband in Andy Warhols Factory die nächsten Jahrzehnte der Musikgeschichte von der Prägnanz des Punk bis zur Traumseligkeit des Indie-Rock vorwegnahm. Wenn sich Lou Reed, John Cale und Nico dann allerdings auf der zweiten CD bei Proben in der Factory an ihren eigenen Songs versuchen, wirken die Titanen hilf- und planlos.

Einfach nur schwach

Auch die Fundstücke, die der Wiederveröffentlichung des Glamrock-Meilensteins "Electric Warrior" von T-Rex beigelegt sind, klingen keineswegs erhellend. Was soll man schon mit der Erkenntnis anfangen, dass Marc Bolan eigentlich eine schwache Stimme und ein eher linkisches Rhythmusgefühl hatte? Und ahnte man nicht schon vor der Jubiläums-Doppel-CD von "Never Mind the Bollocks", dass die Konzerte der Sex Pistols vor allem in der Erinnerung jener ein so gewaltiges Erlebnis sind, die damals selbst dabei waren? Will man auf "American Cutie" wirklich noch einmal nachhören, dass Little Feat an einem Sommerabend in Denver 1973 dilettantisch abgemischt nicht so recht ihren Groove fanden? Sind die schwachen Momente, die Paul McCartney während seiner Arbeit an seinem besten Soloalbum "Ram" ins Archiv verbannte, auch mit dem Abstand der Jahrzehnte nicht einfach nur schwach?

Der primäre Impuls, der hinter den Fluten der Fundstücke und Neuauflagen steht ist natürlich ein schlichtes Spiel mit den Emotionen. Für ein Publikum, das keine Lust oder keine Kraft hat, sich auf den Rausch der Neuentdeckungen einzulassen, ist die Musik aus den nun als "klassisch" etikettierten Jahren des Rock eine Art Grüne Zone, um dem Sturm und Drang der Popkultur zu entkommen. Was dort fehlt, ist allerdings genau jener Effekt, mit dem der Pop das Begeisterungspotenzial seiner Hörer über Jahre hinweg auf einem ekstatischen Grundspiegel hält - der Nachschub an Neuem. Diese Sehnsucht wird nun mit den Fundstücken bedient.

Das bedeutet nicht automatisch Enttäuschung. George Harrisons "Early Takes" waren eine Entdeckung, die für sich stehen kann. Auch "The Legendary Demos" der Songschreiberin und Sängerin Carole King waren so ein Fall. Und dann sind da auch noch Johnny Cashs abgespeckte Aufnahmen für Sun Records. Was diese grandiosen Alben von den zynischen Wiederverwertungsketten unterscheidet ist genau jene archivarische Sorgfalt, die den Subkulturen in ihren Blütezeiten fehlt. Dann findet sich hin und wieder eine Zeitlosigkeit, nach der der Pop sonst vergeblich sucht.

Vor zehn Jahren hätten weder die "Early Takes" noch "The Legendary Demos" oder die Sun Recordings funktioniert. Das liegt ganz schlicht an der Entwicklung der Hörgewohnheiten. In diesem Fall kulminiert hier eine jahrzehntelange Geschichte des Widerstandes gegen die Neigung des Pop, seine Klangbilder hemmungslos mit modischem Zierwerk zu überfrachten.

Ermüdetes Publikum

George Harrison stand am Anfang dieser Entwicklung. Die Kritik an den legendären Klanggebilden und Echos, die der Produzent Phil Spector mit seiner "Wall of Sound"-Methode auf die Songs des letzten Beatles-Albums "Let It Be" und auf Harrisons Solowerk "All Things Must Pass" schichtete, waren die ersten Vorboten für die schleichende Ermüdung des Publikums. Punk mit seiner minimalistischen Dilettanten-Ästhetik war nur sechs Jahre später die erste Antwort auf eine Popindustrie, die immer opulentere Produktionen auf den Markt warf.

Vor den Klangeffekten und der Elektronik standen schon die Chor- und Orchesterarrangements. So gewinnen die Songs von Carole King und Johnny Cash in ihren reduzierten Versionen enorm an emotionaler und musikalischer Wucht. Es ist keine leichte Aufgabe, aus den Untiefen der Rock- und Poparchive solche letztgültigen Aufnahmen zu bergen. Jetzt aber, da sich Rock und Pop immer deutlicher ihrer eigenen Geschichte bewusst werden, gibt es eine neue Aufgabe, die dem Hier- und Jetztgefühl der Subkulturen bisher noch widersprach. Es gilt, das Erbe mit den Ohren und dem Verständnis des 21. Jahrhunderts zu erforschen. Dann gehen solche Zeitfenster auf, die das Gefühl, etwas ganz Großes zum ersten Mal zu hören, auch für die längst abgeschlossenen Kapitel der Popgeschichte wieder möglich machen.

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