Wiederentdeckung:Ein Volk mit schlechter Prosa

Wiederentdeckung: Eduard Engel: Deutsche Stilkunst. Mit einem Vorwort von Stefan Stirnemann. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016. Zwei Bände im Schuber, 933 Seiten, 78 Euro.

Eduard Engel: Deutsche Stilkunst. Mit einem Vorwort von Stefan Stirnemann. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016. Zwei Bände im Schuber, 933 Seiten, 78 Euro.

Sprach- und Stilbücher gibt es viele, die meisten sind Eduard Engels "Deutscher Stilkunst" aus dem Jahr 1911 verpflichtet. Eine prächtige Neuausgabe lädt zur Wiederentdeckung.

Von Hermann Unterstöger

Die zweibändige, von der Anderen Bibliothek mit der von ihr gewohnten Akkuratesse besorgte Neuausgabe von Eduard Engels "Deutscher Stilkunst" umfasst reichlich 900 Seiten und hat, wie alles aus diesem Haus, Anspruch darauf, nicht der Hudelei verdächtigt zu werden. Dies soll auch hier nicht geschehen, jedenfalls nicht generell, aber wenn der Schreiber des Vorworts, Stefan Stirnemann, als Mitarbeiter am "Thesaurua lingua Latinæ" bezeichnet wird, kommt Verwunderung auf.

Wenn man dann einen stilistisch interessanten Brief Wallensteins, der laut Querverweis auf Seite 219 stehen soll, erst nach langem Forschen und Abgleichen mit dem Original auf Seite 393 findet, weicht die Verwunderung leisem Ärger. Vollends kurios wird es bei Lektüre der Stelle, wonach uns die Klassiker "durch das mundartliche Geschmückte" noch herzlicher vertraut werden. Geschmückte? Im Original von 1911 hieß es "Gschmäckle", in der Ausgabe von 1922 immerhin "Geschmäckle".

Die "Stilkunst" erschien 1911 zum ersten Mal und erlebte 31 Auflagen bis 1931

Damit genug der Tüftelei und zum Großen, Wichtigen, Entscheidenden der Neuauflage. An Sprach- und Stilbüchern hat es weiß Gott keinen Mangel, das Land ist vollgestellt mit einschlägigen Ratgebern. Ein Großteil von ihnen ist, ob den Autoren das nun bewusst ist oder nicht, der Engelschen "Stilkunst" verpflichtet, die 1911 in Wien und Leipzig herauskam und sich bei den Lesern mit einer Granate von Befund einführte: "Unter allen schreibenden Kulturvölkern sind die Deutschen das Volk mit der schlechtesten Prosa." In der Ausgabe letzter Hand, der von 1931, stand dieser Satz wieder, nur dass die "Kultur-" zu "Bildungsvölkern" geworden waren. Wie kann das einem Autor unterlaufen, dessen messerscharfem Sprachsinn es doch nicht entgangen sein konnte, dass "Kultur" und "Bildung" keine deckungsgleichen Synonyme sind?

In einer Einzelheit wie dieser spiegeln sich Größe und Tragik Eduard Engels. Die Rüge für die miserable Prosa der Deutschen erwuchs bei ihm ja nicht aus Missgunst oder eitler Besserwisserei, sondern aus dem heißen Wunsch, den Deutschen zu einer besseren, jener der Nachbarvölker ebenbürtigen oder überlegenen Prosa zu verhelfen. Engel schmerzte die Kluft zwischen einer poetischen Literatur, "die sich an Adel und feinstem Reize der Form mit der jedes noch so sprachkünstlerischen Volkes messen kann", und einer Prosa, wie sie mangelhafter und unkünstlerischer nicht vorstellbar sei.

Diese Kluft zu überbrücken war er angetreten, und die Hilfstruppen, die er ins Feld führte, waren die Besten der Besten, wobei es Kritiker Thomas Manns erfreuen dürfte, dass er diesen der "Geckerei" bezichtigt und für die Ansicht, Mann sei der größte deutsche Stilist, nur noch den Stoßseufzer "Gott ist groß und sein Erbarmen grenzenlos" übrig hat. Wie immer sich das verhalten mag, Engel sieht in seiner "Stilkunst" eine Tat des Patriotismus. In dieser Gesinnung schließt er sein Vorwort denn auch mit einem Zitat aus einem Gedicht Conrad Ferdinand Meyers: "Was kann ich für die Heimat tun, / Bevor ich geh' im Grabe ruhn?"

Hat Ludwig Reiners das Werk von Eduard Engel ausgeweidet und ruchlos plagiiert?

Die Grabesruhe trat er, der 87 Jahre alt wurde, im November 1938 an. Da war es um seine "Deutsche Stilkunst" schon sehr ruhig geworden, geisterhaft ruhig, da man ihn, den jüdischen Deutschen, mit einem Publikationsverbot belegt hatte. Widersinniger hätte so ein Verbot nicht ausgesprochen werden können, da Engel an Deutschtum schwer zu überbieten war - an einem insofern wohlverstandenen Deutschtum, als ihm, bei allem patriotischen Drang, nationalistische Enge nicht nachgesagt werden konnte. Dass er das Deutsche und davon vornehmlich die Sprache über alles schätzte, muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass es selten einen weltoffeneren Deutschtümler als ihn gegeben haben dürfte. Bis ins hohe Alter war Engel ein leidenschaftlicher Reisender, und das Repertoire der ihm geläufigen oder jedenfalls vertrauten Sprachen umfasste Latein, Alt- und Neugriechisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Sanskrit, Japanisch und Arabisch. Das Studium der klassischen und romanischen Philologie hatte er mit einer Dissertation über die Syntax des Altfranzösischen abgeschlossen.

Es war also nicht Borniertheit, sondern aus Weit- und Übersicht gewonnene Souveränität, die Engel zur Fremdwortfrage trieb und auf diesem Feld so rigoros wirtschaften ließ, dass der die Sprache hegende Stilmeister in der allgemeinen Wahrnehmung irgendwann von dem sie reinigenden Zuchtmeister überlagert wurde. Das Geschäft der Sprachreinigung ist bis heute nicht erledigt, und auf weiten Strecken vollzieht sich dieser Kampf auch jetzt noch wie zu Engels Zeiten: ". . . durch den groben oder feinen Spott des Häufleins der Sprachreiniger über das Massenheer der Sprachverschmutzer, durch frechen Hohn der übermächtigen Fremdwörtler über die Sprachsäuberer".

Auf den ersten Blick entbehrt es nicht der Komik zu beobachten, wie Engel allmählich selbst zum Opfer seines Reinigungsfurors wird. Auf den zweiten Blick freilich macht es frösteln, weil man hinter dem Mann, der in seinem eigenen Text "philologisch" durch "sprachlich" und "unphilologisch" durch "unwissenschaftlich" ersetzt, schon das Unheil heraufziehen sieht. Das "Mikroskop" der Erstausgabe wird zum "Vergrößerungsglas", was sachlich zwar kaum haltbar ist, aber der Intention dessen entspricht, der sich nicht mehr mit dem ursprünglichen Schimpfwort "Küchenlatein" begnügt, sondern die Fremdwörter nun einem "verquatschten Rackerlatein" zuordnet.

Es ehrt die Andere Bibliothek, dass sie dieses Standardwerk der Sprachkritik in so vornehmer Ausstattung vorlegt: Deutlicher denn je sieht man nun, was ein großer Mann zu leisten vermag, und ebenso deutlich tritt zutage, wo und in welchem Ausmaß seine Nachfolger sich ihre Inspiration holten. Es muss an dieser Stelle der Name Ludwig Reiners fallen, dessen unendlich erfolgreiche Sprachbücher mit dem Vorwurf leben, sie seien aus Eduard Engels Unglück erblüht. Mit diesem Tenor wird auch die Neuausgabe beworben, doch sind Zweifel angebracht, ob man frank und frei sagen kann, Reiners habe Engel gewissermaßen ausgeweidet und ruchlos plagiiert. Engel war nicht, wie glauben gemacht wird, verschwiegen und vergessen. An der Bamberger Universität sind unter der Obhut von Helmut Glück zwei umfassende Arbeiten zum Thema entstanden, die eine von Anke Sauter, die andere von Heidi Reuschel. Weder dieser noch jener lässt sich entnehmen, dass Reiners ein übler Plagiator gewesen sei. Er stand in einer bis heute nicht erloschenen Abschreibtradition, und wenn, wie Reuschel fordert, der Reinersche Erfolg auf Eduard Engel übergehen sollte, so ist diese Neuausgabe der aussichtsreichste Weg dazu.

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