Wiederaufführung:Komische Besessenheit

Fünfzig Jahre nach der Premiere kommt Luis Buñuels Klassiker "Belle de Jour - Schöne des Tages" wieder ins Kino - und zeigt seinen Schöpfer als unergründlichen Humoristen.

Von Philipp Stadelmaier

Luis Buñuel war ein großer Raucher, Lieblingsmarke: Gitanes mit Filter. Außerdem war er ein großer Filmemacher, mit Vorliebe für Filme, die ein wenig funktionieren wie Aschenbecher. Egal, wie viele Kippen man in einem Aschenbecher ausdrückt, er verbrennt nicht. Egal, wie oft man Buñuels Filme interpretiert, am Ende sind sie nur gefüllt mit den kalten Stummeln von Analysen, während ihr Geheimnis gänzlich intakt ist. Vor fünfzig Jahren kam "Belle de Jour" in die Kinos, und die aktuelle Wiederaufnahme des Films beweist: Er ist opak wie eh und je, selbst wenn er heute in einer digital restaurierten, hochaufgelösten 4K-Fassung ins Kino kommt.

Der Geschichte spielt im Jahr 1967, natürlich wird dementsprechend viel geraucht. Der Arzt zündet sich eine Zigarette an, wenn er anfangs zusieht, wie zwei Kutscher seine schöne blonde Frau Sévérine, gespielt von der 24-jährigen Catherine Deneuve, an einen Baum binden, um sie auszupeitschen und dann zu vergewaltigen. Sie genießt es. Denn es ist Sévérine selbst, welche die Szene träumt oder fantasiert.

Abends sitzen sie dann da, er arbeitet, sie strickt, gelangweiltes Pariser Großbürgertum der Sechziger. Man glaubt schnell zu wissen, worum es geht: Sévérine wünscht sich ein aufregenderes Liebesleben mit ihrem Mann. Aber dann weist sie ihn doch zurück, wenn er sich abends zu ihr legen will. Steht ihr der Sinn also vielleicht nach einem anderen?

Belle de jour; Belle de jour

Seit fünfzig Jahren ein Rätselwesen der Filmgeschichte - Catherine Deneuve als "Belle de Jour - Schöne des Tages".

(Foto: Studiocanal)

Buñuel präsentiert ihr daraufhin eine Gelegenheit zum Seitensprung. Michel Piccoli hat seinen Auftritt, er spielt Monsieur Husson, einen windigen, mit dem Paar befreundeten Schürzenjäger. Wenn es schneit, denkt er an die Armen, sagt er, sonst an Sex - und an Sévérine. Er macht ihr ein entsprechendes Angebot. Aber auch das lehnt sie ab. Gleichzeitig erzählt er ihr von einem Edelbordell, in das er früher öfter gegangen sei. Das wiederum interessiert sie. Die reiche Sévérine wird also in dem Etablissement von Madame Anaïs ein Doppelleben als Edelprostituierte beginnen. Nur tagsüber, bis fünf Uhr abends, dann muss sie heim zu ihrem Gatten.

Auf diese Weise führt Buñuel durch ein gänzlich logisches Ausschlussverfahren in immer undurchsichtigere Gefilde. Was treibt Sévérine an, wenn sie beginnt, sich zu prostituieren? Das Geld? Ganz sicher nicht. Lust auf mehr Sex? Nichts ist weniger sicher. Lust auf Sünde, auf Strafe? Das schon eher.

Denn von Sünde versteht Buñuel, 1900 in Aragonien geboren, mitten hinein in einen spanischen Hardcore-Katholizismus und etwa zur selben Zeit wie das Kino und die Psychoanalyse, doch einiges. Neben Literatur und Geschichte studiert er Insektenkunde. Später geht er nach Paris und schließt sich den Surrealisten an. Seinen ersten surrealistischen Film dreht er 1929 mit Dalí: den berühmten "Andalusischen Hund", in dessen erster Szene einer Frau ein Auge durchschnitten wird - auch so ein zeitloser Moment, der niemals etwas von seiner Gewalt verlieren wird. Später emigriert der Mann, der einst zur europäischen Film-Avantgarde gehörte, nach Mexiko, wo er vor allem kommerzielle Filme drehen wird. 1960 folgt die Rückkehr nach Europa, seine letzten Filme dreht er in Frankreich. 1967, im Jahr von "Belle de Jour", ist Buñuel 67 Jahre alt.

In dieser späten Schaffensperiode seziert der Altmeister vor allem die erotischen Träume und Phantasmen des Bürgertums und des Katholizismus und macht sich gehörig über sie lustig. In Flashbacks erinnert sich Sévérine, wie sie als Kind die heilige Kommunion empfangen soll (und verweigert). Sévérines wiederkehrende Tagträume, in denen sie durch die Gegend kutschiert und von ihrem Mann und Monsieur Husson bestraft wird, lassen sich auch psychoanalytisch wunderbar ausdeuten. Bei allen Erklärungsansätzen darf man aber auch Buñuels Interesse für Entomologie nicht aus den Augen verlieren: Seine Kamera beobachtet Sévérine wie ein Insekt, dessen Verhalten er studiert, ohne es zu erklären.

Das Zeitlose liegt bei Buñuel in den Elementen des Unbewussten

Dass Sévérine auch über das Begehren verschiedener Männer definiert wird, könnte zwar heute als überkommene Chauvi-Perspektive erscheinen. Doch männliches Begehren zeigt Buñuel als komische Besessenheit. Sein letzter Film hieß "Dieses obskure Objekt der Begierde" und erzählte von der Obsession eines älteren Mannes mit einer jungen Frau, die sich ihm verweigerte. Das Objekt des Begehrens entzieht sich. Die Folgen für die Männer: Eifersucht und krankhafte Paranoia. Paradebeispiel ist der Held in "Él", ein krankhaft eifersüchtiger Mann, der überall Zeichen für die Untreue seiner Frau wittert.

Auch seine Zuschauer verwandelt Buñuel zunehmend in Paranoiker, die sich von Symbolen geradezu verfolgt fühlen. Ausgangspunkt diverser exegetischer Wahnvorstellungen in "Belle de Jour" ist vor allem das kleine Kästchen, das ein Klient ins Freudenhaus mitbringt. Er öffnet es vor Sévérine, aber seinen Inhalt kriegen wir nie zu sehen. Ein Symbol vielleicht, das unsere Spekulationen anheizt, aber jede einzelne frustriert zurücklässt.

Warum also "Belle de Jour" heute, 2017? Weil ein großer Buñuel- oder Deneuve-Fetischist in einem Filmarchiv jene verlorenen Aufnahmen gefunden hätte, die endlich doch den Inhalt des Kästchens enthüllen? Das wäre ein schöner Buñuelscher Witz - aber der Film läuft völlig unverändert und entwickelt dennoch ganz aktuelle Kraft. Das Zeitlose liegt bei Buñuel in den Elementen des Unbewussten, die nicht nur unverständlich und unausdeutbar, sondern vor allem saukomisch sind. Wenn Sévérine in einem ihrer Tagträume für einen nekrophilen Adeligen in einem Sarg liegt und die Tote spielt, stört dessen Diener das Ritual mit der absurden Frage: "Soll ich die Katzen reinlassen?" So dominiert der Witz über einen vermeintlich verborgenen Sinn. Als würde man sich beim Aufwachen an einen Traum erinnern und über seinen Rätseln in schallendes Gelächter ausbrechen.

Belle de Jour, FRA/ITA 1967 - Regie: Luis Buñuel. Buch: Buñuel, Jean-Claude Carrière, Joseph Kessel. Kamera: Sacha Vierny. Mit Catherine Deneuve, Jean Sorel, Michel Piccoli. Studiocanal, 110 Min.

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