Verzagtheit und Trübsal passen schlecht zum Architektenberuf. Auf den Trümmerfeldern der Zerstörung gedeiht ihre Fantasie oft am besten. Kaum waren die Rauchschwaden über Notre-Dame verflogen, kursierten erste Vorschläge für den Wiederaufbau. Neben Albernheiten und Größenwahn war auch Ernstgemeintes dabei.
Der Brite Norman Foster diente sich sofort mit seinem patentierten Modell einer Glasüberdachung samt begehbarem Vierungsturm an. Das französische Architekturbüro Godart + Roussel möchte das Dach von Notre-Dame ebenfalls durch Verglasung als Aussichtspromenade nutzbar machen. Der Architekt Alexandre Chassang entwarf einen futuristischen Vierungsturm - "wir würden doch auch keine Kopie der Mona Lisa in den Louvre hängen", meint er. Der Designer Anthony Séjourné sähe den wiedererstandenen Turm hingegen eher als Lichtprojektion. Sein Kollege Marc Carbonare wiederum möchte, statt die für den Nachbau nötigen Eichen zu fällen, lieber ein Wäldchen auf dem Dach von Notre-Dame pflanzen.
Begünstigt wurde dieses Ideengetöse durch den von Präsident Emmanuel Macron ausgerufenen Architekturwettbewerb und die Ankündigung, man wolle die Kathedrale binnen fünf Jahren "noch schöner" wiederaufbauen. Eine Ausnahmeregelung, die den künftigen Bauträger von den üblichen Auflagen des Denkmalschutzes weitgehend befreit, wurde im Ministerrat bereits verabschiedet. Unter Denkmalschützern im Lande stieß dieses Schnellschussverfahren auf scharfe Kritik.
Auch international melden sich kritische Stimmen. In einem vom Figaro veröffentlichten Aufruf ermahnen mehr als tausend Kunsthistoriker und Denkmalpfleger aus aller Welt den Präsidenten Macron, nichts zu überstürzen. Tatentschlossenheit sei schön und gut, schreiben sie, doch sei die Agenda der Politik nicht die der Denkmalpflege. Diese müsse sich vor zahlreichen Generationen verantworten. Die Unterzeichner wollen sich nicht für eine bestimmte Lösung aussprechen, über einen originalgetreuen oder einen zeitgenössischen Wiederaufbau, sondern plädieren für eine sorgfältige Diagnose des Zustandes vor jeder Entscheidung. "Sorgen wir dafür, dass das komplexe Hin und Her der Überlegungen nicht vom forschen Effizienzstreben überrollt wird", fordern sie in listiger Anspielung auf Macrons eigenen Anspruch auf "komplexes Denken" gegenüber der herausfordernden Schnelllebigkeit unserer Zeit. Nicht große architektonische Gesten seien nun nötig, sondern Millionen bescheidener Handreichungen nach den Regeln des denkmalpflegerischen Kunstverstands, bei dem Frankreich seit anderthalb Jahrhunderten stets eine führende Rolle gespielt habe.
Wären aber überhaupt genügend Zimmerleute, Steinmetze und Restauratoren verfügbar für ein so gewaltiges Projekt? Manche bezweifeln dies. Unbestreitbar ist immerhin, dass die Aufrechterhaltung dieser Gewerbezweige in Europa weniger vernachlässigt wurde als manchmal die Denkmäler selbst. Die handwerkliche Fachkenntnis ist in breitem Maß lebendig geblieben. Ihr Einsatz könnte sogar zu einer neuen Bestätigung europäischer Zusammengehörigkeit führen. So klingt jedenfalls die Botschaft, mit der die deutsche Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, am Dienstag nach Paris gekommen ist und zusammen mit ihrem französischen Kollegen Frank Riester die ausgebrannte Kirche besucht hat. Am Humboldt-Forum in Berlin seien die Arbeiten des Traditionshandwerks bald abgeschlossen, sagte sie, man werde alles unternehmen, die Handwerker je nach Bedarf nach Paris weiterzuvermitteln. Grütters zufolge sind für die Restaurierung der Notre-Dame bisher 900 Hilfsangebote aus Deutschland eingegangen. Manche sind finanzieller, andere materieller Art wie etwa die von der Universität Bamberg angefertigten 3D-Scans weiter Teile der Kathedrale, die den Franzosen für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellt werden.
Am Ort selbst sind die ersten Sicherungsarbeiten im Gange. Über das Längs- und Querschiff wurde eine provisorische Dachplane gelegt, in den nächsten Monaten soll eine dauerhaftere Überdachung installiert werden. Mit Robotern werden - wegen Einsturzgefahr - im Kirchenschiff die Trümmer beseitigt und sortiert. Mit Drohnen wird der Zustand der Mauern untersucht. Zwei brüchig gewordene Tragepfeiler wurden in Metallfassung gelegt.
Ob die erhaltenen Gewölbe nicht ebenfalls abgetragen werde müssten, sei noch nicht abzusehen, sagt Barbara Schock-Werner, ehemalige Bauhüttenmeisterin des Kölner Doms, die zusammen mit der Staatsministerin nach Paris gereist ist und die deutschen Hilfsangebote koordinieren wird. Besonders erfreut ist sie, dass alle Strebepfeiler noch stehen. "So ist das mit der Gotik", schwärmt sie, "die rüttelt es so richtig durch und das hält trotzdem, während Romanik und Barock sofort einbrechen". Auch Schock-Werner rät zu sorgfältiger Prüfung vor jeder Grundsatzentscheidung und äußert sich skeptisch zur Frage allfälliger zeitgenössischer Versatzstücke. Ob etwa das reduzierte Gewicht eines Dachstuhls aus Metall statt aus Holz dem Mauerwerk zuträglich wäre, ist zweifelhaft. Auf die Frage nach Macrons verwegener Fünfjahresfrist für den Wiederaufbau antworten indessen alle Fachleute mit dem gleichen verlegenen Abwinken: Das reiche vielleicht mal gerade für den Innenausbau.