Wie wir lesen:Tiefe Sehnsucht

Je weiter die Digitalisierung voranschreitet, desto glanzvoller erscheint die Geschichte des gedruckten Buches.

Von Lothar Müller

Die Eltern streiten, das Kind ist unglücklich. Dass seine Mutter vor Kurzem einen kleinen Bruder geboren hat, macht es nicht glücklicher. Wenig später, es ist nun acht Jahre alt, beginnt der Vater, ihm das Lesen beizubringen, und kauft ihm zwei kleine Bücher. Das eine ist eine Anweisung zum Buchstabieren, das andre enthält eine Abhandlung gegen das Buchstabieren. Das entdeckt der Junge aber erst später. Erst einmal folgt er dem Buchstabierbuch und müht sich mit schwierigen biblischen Namen ab, mit denen er nicht den Schatten einer Vorstellung verbinden kann. Aber Nebukadnezar und Abednego führen ihn zu der Erkenntnis, dass sich durch die zusammengesetzten Buchstaben Ideen ausdrücken lassen, und das stärkt seine Begierde, lesen zu lernen, ungemein. Vom mühsamen Entziffern bis zum flüssigen Lesen dauert es nun nur wenige Wochen: "Seine Begierde zu lesen war nun unersättlich."

So schildert Karl Philipp Moritz im "Anton Reiser" den Weg des Helden in die Bücherwelt. Alle Glücksversprechen und alle Dämonen der Alphabetisierung sind in diesem Roman aus dem späten 18. Jahrhundert versammelt. Die Buchstaben verbreiten Schrecken und locken in neue Welten, sie nähren die Einbildungskraft und treiben die Denkkraft in Paradoxien.

Dem Alphabet blieb der Autor, der darin seine eigene Kindheit darstellte, treu, er verfasste Wörterbücher, Briefsteller und Abc-Bücher für Kinder: "Das offne Auge sieht ins Buch. Das Buch macht junge Kinder klug."

Seit je spielt das Bildungsversprechen im Lob der Bücher eine Schlüsselrolle. Seit einiger Zeit macht es eine seltsame Metamorphose durch. Es entkoppelt sich mehr und mehr von den Warnungen vor den Gefahren des Lesens und der Bücherwelt, von denen es im "Anton Reiser" umgeben war.

In dem Maß, in dem die Sorge um die Elementarbildung, die Lese- und Schreibfähigkeit von Grundschülern und Heranwachsenden zunimmt, werden die Bücher zu Hoffnungsträgern, denen man nicht mehr - wie den unberechenbaren Menschen, die auf sie zugreifen - alles Mögliche zutraut, sondern vorzugsweise Gutes.

Das gilt vor allem für gedruckte Bücher, seit zu Beginn dieses Jahres 130 Wissenschaftler aus ganz Europa in der "Stavanger Erklärung" die Publikation ihrer Forschungsergebnisse zu den Besonderheiten der Lektüre am Bildschirm und auf Papier mit der Warnung verbanden, "dass der rasche und wahllose Ersatz von Druckwerken, Papier und Stift durch digitale Technologien im Primarbereich nicht folgenlos bleibt". Papier werde das bevorzugte Lesemedium für längere Texte bleiben, da es ein "tieferes Verständnis" und das "Behalten" gegenüber dem "flacheren", zum schnellen Überfliegen tendierenden Lesen am Bildschirm begünstige.

Über Jahre befeuerten die "unglücklichen Bücher", die gelesen und wieder gelesen wurden, den Ehekrieg

Leicht lässt sich die pragmatische Forderung nach einer zweigleisigen Leseförderung in eine grundsätzliche, dramatische Polarität überführen. Das gedruckte Buch wird dann zum Heilmittel gegen alle Dämonen des noch jungen digitalen Zeitalters. Es tritt als Zone des "deep reading", der Entschleunigung und Konzentration, den geringen Aufmerksamkeitsspannen entgegen, dem schnell abgesetzten Hass-Tweet, den allseits kursierenden Fake News. "Je tiefer wir in einen Text eintauchen, desto stärker schult das Lesen unser kritisches Denken, auch unsere Empathie und Einsichten", so die amerikanische Leseforscherin Maryanne Wolf in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung.

Unverkennbar zeichnet sich in den aktuellen Lobliedern auf das gedruckte Buch das Ideal des mündigen Bürgers ab, der Konflikte vernünftig löst. Bei Anton Reiser war das noch anders. Der Ehekrieg seiner Eltern, der lutherisch geprägten, bibelfesten Mutter und des Vaters, des Anhängers einer quietistischen Sekte, wurde jahrelang durch die "unglücklichen Bücher" befördert, die sie wieder und wieder so empathisch wie intensiv lasen. Hier waren die Bücher noch Brandbeschleuniger, wie im Konfessionsstreit der Frühen Neuzeit.

Selig die Zeiten, in denen das "deep reading" nur auf Druckerzeugnisse trifft, die das kritische Denken befeuern, gegen Radikalismus und Rassismus immunisieren. Es gibt auch weniger freundliche Bücher, und sie sind auch dann in der Welt, wenn - zum Beispiel - rechte Verlage auf den Besuch der Frankfurter Buchmesse verzichten, weil sie das Forum nicht mehr brauchen. Dem gedruckten Buch als Medium ist alles zuzutrauen, es hat eine gewisse Tradition darin, parlamentarische Demokratien zu untergraben. Die Hoffnung, es seien in ihm allein durch sein Format Energien der Aufklärung, Kritik und Toleranz verborgen, ist so illusorisch wie der Satz "Böse Menschen haben keine Bücher".

Dem jüngsten Essay der amerikanischen Buchhistorikerin Leah Price, "What We Talk About When We Talk About Books", (2019) ist die Übersetzung ins Deutsche sehr zu wünschen. Er ist ein Frontalangriff gegen die Neigung, alles Nachdenken über die Bücherwelt der Opposition "digital oder print" zu unterstellen, und schlägt vor, einfach den verschiedenen Gebrauch zu untersuchen, den die Leute von Texten machen, was auch immer deren physische Form sein mag.

Die Autorin, 1970 geboren, ist noch wie Anton Reiser in einer analogen Bücherwelt zur Leserin geworden und sehr vertraut mit E-Books. Sie untersucht die Lesespuren in gedruckten Büchern und den Gebrauch, der von Lesegeräten gemacht wird, ihr Essay lässt wenig übrig von der Vorstellung, die zerstreute, oberflächliche, fragmentierte Lektüre lasse sich verlässlich den digitalen Formaten zuordnen, das "deep reading" dem bedruckten Papier.

Gerade für die großen Romane der Vergangenheit gilt, dass die Leser - sehr oft Leserinnen - sie nur selten von der ersten bis zur letzten Seite in einem großen Spannungsbogen durchquerten. Häufig weisen allein die Seiten mit den Verführungsszenen Lesespuren auf, während ganze Kapitel mit Landschaftsbeschreibungen übersprungen werden. Und keineswegs selbstverständlich ist die Fokussierung der gesamten Aufmerksamkeit auf die Lektüre.

Warum verdient die New York Public Library so viel Geld damit, ihre Treppe für Hochzeiten zu vermieten?

Warum verdient die New York Public Library so viel Geld damit, ihre Treppe für Hochzeiten zu vermieten? Nicht nur, weil die Treppe 2008 bei der Hochzeit einer Heldin der Serie "Sex and the City" als Schauplatz diente. Sondern, weil Traditionsbibliotheken wie dieser die Aura der Stabilität zugewachsen ist, so wie den gedruckten Hardcovern die Anmutung, sie seien Bündnispartner der Zeit als Dauer.

Leah Price erzählt gerne Geschichten wie diese. Denn sie hat einen interessanten Verdacht. Er besagt, dass die Digitalisierung der Gegenwartskultur mindestens so sehr die Bücherwelten der Vergangenheit umfasst wie die der Gegenwart und Zukunft. Damit meint sie nicht die Retrodigitalisierung, die Überführung ganzer Bibliotheken und Zeitungsarchive in elektronische Formate.

Sie meint die Bilder, die wir uns von den Büchern der Vergangenheit machen, den Einfallswinkel, aus dem heraus wir sie wahrnehmen. Je mehr wir von der Sorge geplagt werden, uns in der digitalen Welt, in Multitasking und fragmentierten Lektüren zu verlieren, desto verlockender erstrahlt das gedruckte Buch als Gegenwelt des "deep reading".

Wenn wir dann aber in die Realgeschichte des Lesens von bedrucktem Papier eintauchen, finden wir uns in einer Welt wieder, in der wie in unserer eigenen die umfangreichen Bücher und das "deep reading" nur Spezialfälle inmitten eines riesigen Labyrinths von Formaten und Lektüreroutinen ist. Und immer sind es eher die Menschen, die aus diesen oder jenen Gründen schnell oder langsam, skeptisch oder hingebungsvoll, einsam oder in Zirkeln lesen und die Bücher zu sozialen Medien machen. Am Ende seines Romans geht Anton Reiser auf Wanderschaft, im Gepäck hat er einen handlichen, leichten Taschen-Homer im Duodezformat wie Werther, der Held seines "deep reading". Ein Nachfahre des mobilen Homer ist das E-Book.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir die Autorin des Buches "What We Talk About When We Talk About Books" fälschlicherweise mit Vornamen Sarah genannt. Richtig ist, dass sie Leah Price heißt.

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