Süddeutsche Zeitung

"Wie im echten Leben" im Kino:Trunken vor Erschöpfung

Juliette Binoche auf Wallraff-Tour: In "Wie im echten Leben" will eine Schriftstellerin am eigenen Leib erleben, was harte, schlecht bezahlte und gering geschätzte Arbeit ist.

Von Fritz Göttler

Zwei Frauen am Strand, nahe der Hafenstadt Caen in der Normandie, die Anoraks zugeknöpft, die Haare noch zum Zopf gebunden. Die eine streckt sich aus, ist entspannt - ich bin schlaftrunken, sagt sie, ivre de fatigue, die schöne Trunkenheit der Erschöpfung. Die andere hockt skeptisch daneben: Ich habe keine Zeit, aufs Meer zu gucken. Ein kurz entschlossener Abstecher hat die zwei ans Meer gebracht, sie kommen von der Arbeit, Putzkräfte, unter härtesten Bedingungen, unter gewaltigem Druck der zynischen Vorgesetzten: Sie reinigen die großen Fähren im Hafen von Ouistreham (so der Originaltitel), in der kurzen Zeit, da diese im Hafen anlegen. In 230 Kabinen Abfall entsorgen, Betten machen, Spiegel putzen, vier Minuten pro Kabine. Akkordarbeit, ein eingespieltes Team, aber: Die Männer machen natürlich nicht die Toiletten.

Marianne Winckler ist die entspannte der Frauen, sie arbeitet undercover, ist von Paris gekommen, um für ein Buch zu recherchieren, über die prekäre Situation der Arbeiterinnen. Sie will spüren, wie das wirklich ist, die schmerzenden Arme, der Rücken, will die Unsichtbaren sichtbar machen. Sie wird im Team aufgenommen, das schlechte Gewissen bleibt. Die Frauen gehen zusammen kegeln, trinken auf dem Parkplatz danach selbst mitgebrachten Mojito. Eine besondere Freundschaft, mehr sogar, entwickelt Marianne mit der jungen Christèle, das ist die andere Frau am Strand, und ihren Jungs.

In den Bildern wird die schlimmste Akkordarbeit immer eine ungewollte Faszination ausüben

Dass die Arbeit in der Kinogeschichte fast nie gefilmt wurde, wie und ob man sie überhaupt filmen könnte, in der kapitalistischen, industrialisierten Gesellschaft, mit ihrer Ausbeutung und Entfremdung, darüber haben Godard oder Alexander Kluge oder Harun Farocki viel und intensiv reflektiert. Auch Emmanuel Carrère, der ein Filmkritiker war (und ein Buch über Werner Herzog schrieb) und inzwischen als Romanautor erfolgreich ist, war das bewusst, als er die Reportage der Journalistin Florence Aubanas verfilmte (deutsch: "Putze! Mein Leben im Dreck"). Die Mühsal, der Stress, die Qual, all das kann nur berichtet werden, in den Bildern wird die schlimmste Akkordarbeit immer eine ungewollte Faszination ausüben, in ihrer mechanischen Schönheit und Präzision. Carrère, der auch dokumentarisch arbeitete, hat auch die Arbeitsszenen exakt inszeniert, und er hat einen zweiten Kameramann, Philippe Lagnier, losgeschickt, der unabhängig Aufnahmen in Caen machen sollte. Zwei Dutzend von diesen sind im Film eingefügt, Mystery Shots nennt Carrère sie.

Der Film inszeniert so seine Distanz zur Arbeitswelt, in seinem Mittelpunkt steht die bürgerliche Frau, die sich dieser Welt annähert und doch weiß, dass sie nie Teil davon werden wird. Binoche ist die einzige Schauspielerin in diesem Film, aber sie wirkt fast hölzern neben den Arbeiterinnen, die unglaublich schön und energisch und verletzlich spielen.

Undercover-Filme haben alle die gleiche Struktur, sie steuern unbeirrbar auf den Moment zu, da der Verrat aufgedeckt wird, der Moment der Enttäuschung und Verzweiflung, auch für den, der betrogen hat. In "Ouistreham" ist dieser Moment verknüpft mit einer Nacht auf dem Fährschiff, die trunken und traumhaft ist und in der alles zusammengeht, eine Vision vom Aufbruch und eine von Ewigkeit.

Ouistreham, 2022 - Regie: Emmanuel Carrère. Buch: Florence Aubenas, E. Carrère, Hélène Devynck. Kamera: Patrick Blossier. Schnitt: Albertine Lastera. Musik: Mathieu Lamboley. Mit: Juliette Binoche, Hélène Lambert, Didier Pupin, Léa Carne, Steve Papagiannis, Evelyne Porée. Neue Visionen, 107 Minuten. Kinostart: 30. Juni 2022.

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