Süddeutsche Zeitung

Wie eine große Karriere begann:Die Wut des Schreibens

Ein Buch vom Ende der Postmoderne, von da führt ein direkter Weg zum Genre des Kriminalromans. Håkan Nessers Debütroman "Der Choreograph" gibt es jetzt auch auf Deutsch.

Von Fritz Göttler

Ja, sie war die schönste Frau auf der Welt, da gibt's für David keinen Zweifel. Maria steht im Laden und probiert ein Kleid an, roter Baumwollstoff mit schwarzen Applikationen in geometrischen Formen, glockenförmig und ärmellos. Ihr Haut verrät ihre südeuropäische Herkunft. Sie scheint unschlüssig. Als David an dem Laden vorbeigeht, kommt es zu einem unerklärlichen Ereignis, ein Zusammenstoß, ein kurzer Blackout, er liegt am Boden, blutend an den Handknöcheln. Er betritt den Laden. Brauchen Sie vielleicht eine Entscheidungshilfe, fragt er die Frau vor dem Spiegel. Sie versteht, was er damit sagen will: Ich liebe Sie. Wollen Sie mit mir schlafen? Ja, gern!

"Der Choreograf" ist Håkan Nessers erstes Buch, von 1988, nun erstmals auf deutsch erschienen. Ein Buch der Berührungs-, aber keiner Verknüpfungspunkte. David und Maria schlafen miteinander, aber sie wird nicht bleiben, sie verschwindet wieder aus der Stadt. Es gibt viel Dunkles in meinem Leben, schreibt sie David in einem Brief, in dem sie dann von ihrem Mann Carlo erzählt und von ihrer Tochter Anna. 'Ich muss immer wieder zurückkehren.' Sie geht spazieren, während David den Brief liest.

Um Marias Geschichte geht es nicht wirklich in diesem Buch voller loser Fäden, an denen der Erzähler David unlustig zupft. Die Mühsal des Erzählens, die Mühsal des Erinnerns. Er versucht die Begebenheiten seines Lebens und seiner Liebesgeschichte in eine Ordnung zu bringen, das mag man als artifizielle Konstruktion empfinden oder als Tändelei. David ist Wissenschaftler, er arbeitet in einem Institut mit Patienten, Studenten und Versuchstieren. Als Erzähler ist er hilflos, dem Hier und Jetzt, der Übermacht des Augenblicks hat er nichts entgegenzusetzen. Er bleibt der Zeit ausgeliefert.

Der Schatten von Julio Cortázar und Italo Calvino liegt über dem Buch und natürlich der von Franz Kafka. Alle Wege führen nach K. , der Universitätsstadt in den Bergen, "eine Stadt wie alle anderen, in einem Land wie alle anderen, in einem Europa, in dem berechenbar war, was geschehen konnte". Das Institut nennen alle nur das Schloss. Die Politik spielt hinein ins Private. Erzählerischer Ausnahmezustand. Soldaten, 'die Getreuen des Wahnsinns', Truppenverlagerungen, Militärtransporte formieren eine latente Chronologie, am Ende ein Staatsstreich.

Eugen G. Brahms, der im Vorwort die Motive sammelt, die aus diesem Roman in Nessers späteres Werk rutschen, weist auf die magische Präsenz des Militärs in Ingmar Bergmans Film Das Schweigen hin.

Den schwedischen Autor Håkan Nesser kennt man in Deutschland vor allem als Autor der Kriminalromane, die er ab 1993 vorlegte, zehn sind es bisher, zunächst mit dem Kommissar Van Veeteren in der fiktiven Stadt Maardam, dann ab 2006 die mit dem Inspektor Gunnar Barbarotti (im bislang letzten Roman "Der Verein der Linkshänder" ist auch Van Neeteren wieder mit dabei). Im Februar ist Håkan Nesser siebzig Jahre alt geworden.

Wer der Choreograf ist, den der Roman im Titel trägt, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Auch nicht, wer die Bewegungen bestimmt, welche die Menschen zueinanderführen und wieder trennen, und welche Rolle der Zufall dabei spielt. "Als ich endlich in sie eindrang, erschien das fast als etwas, das unserer Choreographie mit der gleichen Sicherheit folgte wie alles andere. Als wären wir zwei Schauspieler, die das uralte Stück von Mann und Frau spielten. Ein unveränderliches, instinktives Ritual, bei dem unsere Aufmerksamkeit so groß, unsere Zärtlichkeit so konzentriert war, dass unsere Bewegungen nie falsch sein konnten ... und genau das, was ich in diesem Hotelzimmer durchlebte, das war der wahre Sinn meines Lebens. Und wir sagten nichts. Hinterher weinten wir."

Eine Choreografie ohne Choreografen? Es geht aber dann doch nicht ums Erzählen, sondern ums Schreiben. Ein Buch vom Ende der Postmoderne, der Mythos der ecriture, der manuellen, automatischen. Von da führt ein direkter Weg zum Genre des Kriminalromans. David beginnt beim Schreiben die erste Begegnung, den ersten Beischlaf mit Maria neu zu erschaffen, während alles noch andauert. "Während ich schreibe, überfällt mich plötzlich eine heftige Wut: fest umklammere ich den Stift in meiner Hand, so fest, dass die Knöchel weiß werden. Als wollte ich die Buchstaben aus diesem Werkzeug herausdrücken; die vollkommene Sprache herauszwingen, von der ich weiß, dass es sie nicht gibt, die mich jedoch aus meiner Ohnmacht würde befreien können."

Suche nie die große Wahrheit im Grübeln, ist der Rat des Schreibers. Er setzt aufs Pointierte, auf Gedankenblitz und Ironie. Auch das Gegenteil der großen Wahrheit ist eine große Wahrheit. "Wenn wir die Münze umdrehen, dürfen wir uns nicht am Königsabbild blind sehen. Wenn die Haut zerreißt, dann können wir endlich klar sehen, und was wir sehen, das ist A und Nicht-A." Den Essay, in dem David dies formuliert, schreibt er im Traum.

Das Ende ist dann schon mal wie in einem Kriminalroman, ein locked room mystery. Die Frau verschwindet spurlos aus einem Geschlossenen Pensionszimmer. Nur durch eine hauchdünne Schicht sind Krimis von der fantastischen Literatur getrennt. Zum entscheidenden Dreh - dass das Fantastische, Unmögliche doch rational noch erklärt werden kann - kommt es hier nicht. Das Ende ist absolut, so absolut wie es vorher nur bei G.K. Chesterton zu finden war, das ultimative Verbrechen des Erzählens. "Ich bat dich, die Wirklichkeit aufzulösen, das, was gewesen war, ungeschehen zu machen; ich bat dich, den Sprung aus dem Zusammenhang zu wagen ...".

Das Spiel der Postmoderne hat bei Håkan Nesser eine politische Grundierung. In seinem Buch "Zur Frage der Distinktionen" beschreibt Hermann Klimke (ein Name, der auch im späteren Nesser-Werk auftauchen wird) zwei grundlegende Menschentypen. Zum ersten Typ zählt er diejenigen, die eine Art angeborenes Recht auf ihre Existenz habe, sich das Privileg herausnehmen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und meistens fordern, dass die Dinge nach ihrer Vorstellung geregelt werden statt umgekehrt.

Die andere Sorte Mensch dagegen lebt Klinke zufolge, als hätten sie diese Berechtigung nicht von vornherein. Daher müssten sie sich jeden Tag neu erobern, wieder und wieder einen Sinn und einen Platz in der Welt finden, in der nichts von vornherein als gegeben angenommen werden kann. Ständig müssten sie ihre Existenz rechtfertigen. Doch, so Klimke, diese scheinbar schwächeren Menschen sind in Wahrheit die stärkeren. "Sie sind die wahren Eroberer und die vorwärtstreibenden Kräfte."

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Quelle:
SZ vom 06.04.2020
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