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Wichtigster deutscher Literaturpreis:Seiltänzer, dem der Poltergeist im Nacken sitzt

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Eine gute Wahl: Der Schweizer Dramatiker, Erzähler und Essayist Lukas Bärfuss erhält den Georg-Büchner-Preis 2019.

Von Lothar Müller

Wie ein Tänzer, der auf dem Hochseil ästhetischen Formbewusstseins "nervöses politisches Krisenbewusstein und die Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse am exemplarischen Einzelfall" ausbalanciert, wirkt der Schweizer Dramatiker, Erzähler und Essayist Lukas Bärfuss in der Begründung, mit der die Jury der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ihm den Georg-Büchner-Preis 2019 zugesprochen hat, die nach wie vor bedeutendste Auszeichnung in der deutschsprachigen Literatur. Von "hoher Stilsicherheit und formalem Variationsreichtum" ist die Rede, von "einer distinkten und dennoch rätselhaften Bildersprache, klar und trennscharf".

Es wird den Autor freuen, seine Kunst so filigran gewürdigt zu sehen. Das Energiebündel aber, das im formbewussten Seiltänzer steckt und ihn vorantreibt, der Poltergeist mit seiner unbändigen Lust am großen Krach und groben Ton wird sich ins Fäustchen lachen, dass er so vornehm im Hintergrund bleiben darf. Zu Georg Büchner, der 1836 in Zürich seine Probevorlesung "Über die Schädelnerven" hielt und wenige Monate später dort starb, wird beiden etwa einfallen, dem Seiltänzer wie dem Poltergeist, der immer wieder seine Landsleute heimsucht wie im Herbst 2015 mit dem Essay "Die Schweiz ist des Wahnsinns", einem scharfen Angriff auf die politische Rechte, ihren Schutzherrn Christoph Blocher und die Schweizer Medienlandschaft, der eine Attacke auf "das Heiligste aller Schweizerischen Heiligtümer" einschloss, die direkte Demokratie.

Lukas Bärfuss ist im Dezember 1971 in Thun geboren, und er bewahrt dieser Herkunft bis in seine Sprache hinein eine gewisse, manchmal leicht widerwillige Treue. Wenn er etwa in seinem jüngsten Essayband "Krieg und Liebe" (2018) auf die Bemerkung Stendhals stößt, "nur wenige Familien seien glücklicher als jene aus dem Berner Oberland", dann geht er sogleich dem Beleg dafür nach, stößt auf Eltern, die einem durchreisenden Offizier ihre Tochter anbieten und landet bei dem Satz: "Man muss Stendhal genau lesen: Nicht die Oberländer seien glücklich, behauptet er, sondern die Familien." Es ist von diesem Satz, in dem das Glück der Familien unabhängig vom Glück ihrer Mitglieder existiert, nicht weit zu "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" (2003), einem der Stücke, mit denen der Dramatiker Lukas Bärfuss bekannt wurde.

Das Misstrauen ist eine elementare Quelle für das Werk dieses Autors

Er selbst ist, wie er in seinen Essays berichtet hat, in Familienverhältnissen aufgewachsen, in den die Glückskontingente begrenzt waren, den Heranwachsenden, der er war, hat er als "Miststück" beschrieben. In den Klappentexten seiner Bücher könnte eine biografische Notiz wie diese stehen: Tabakbauer, Gabelstaplerfahrer, Eisenleger, Gärtner. Er hat dann aber eine Buchhändlerlehre absolviert, und Chefin der Schleuserbande, die ihn aus der Herkunftswelt herausführte, war die Literatur.

Lukas Bärfuss gehört einer Generation an, die kaum noch gegen das Klischee der idyllischen Schweiz anschreiben musste. Sie erlebte Drogenunruhen, den Brand im Gotthardtunnel, den Untergang der Swissair, das Blutbad im Kantonsparlament. Nicht nur Robert Walser hat er früh gelesen, sondern auch Heinrich von Kleist. Wie Kleist tendiert der Dramatiker Bärfuss, wenn er Prosa schreibt, zu Erzählung, Novelle und Anekdote eher als zum Roman. Wie Kleist in "Das Erdbeben in Chili" und "Die Verlobung in St. Domingo" bettet Bärfuss in seiner langen Erzählung "Hundert Tage" (2008) die Liebeshandlung in eine Katastrophenlandschaft ein. Der Schweizer NGO-Mitarbeiter und einer Frau aus Kigali, die im Bürgerkrieg in Ruanda am Ende an Cholera stirbt, sind nicht weit entfernt von dem Klischee, in dem ein weißer Mann mit einer Afrikanerin die Sexualität als "wilde" Urgewalt erlebt.

Eine elementare Quelle für das Werk dieses Autors ist aber das Misstrauen. Die Intensität und Sprachkraft, mit der er diese Geschichte einer Liebe in Zeiten des Völkermords erzählt, resultiert aus dem doppelten Misstrauen gegenüber der Schweiz und gegenüber der populären Vorstellung des afrikanischen "Chaos in Kigali". Der schwache Held des Buches mit dem sprechenden Namen David Hohl, Bürger ebenso sehr der neuen globalen Weltordnung nach 1989/90 wie der Schweiz, erfährt in Ruanda, "dass man jenes Höllenland auch die Schweiz Afrikas nannte". Die Mörder beenden pünktlich bei Dienstschluss das Morden. Der Horror angesichts der Abgründe von "Stammesgewalt" und "archaischer Brutalität" weicht der Einsicht, "dass jeder Völkermord nur in einem geregelten Staatswesen möglich ist".

Manchmal bringt der Poltergeist, der treue Bundesgenosse des Körpers, der Leidenschaften und der Schmerzen, den formbewussten Seiltänzer Bärfuss aus der Balance. In "Koala" (2014), einem Zwitter aus Erzählung und Essay, spürt er dem Selbstmord seines Bruders nach. Ein Vortrag, den er in seiner Heimatstadt dem Selbstmörder Kleist widmet, der in Thun die Idylle suchte, steht am Beginn. Bei dieser Gelegenheit hat er den Bruder zum letzten Mal gesehen, der als Heranwachsender den vom Geruch der Faulheit umgebenen Spitznamen "Koala" erhielt. In diesen Namen schreibt der Erzähler seine wuchernde Recherche über die Evolutionsgeschichte des Koala hinein und verliert dabei den Bruder und seinen Tod fast an die sich immer weiter verzweigende Allegorie.

Das Verschwinden, Herausstürzen aus Routinen, die Lebenskrise, die sich im Alltag plötzlich auftut wie das Loch in der Straße, in das ein pünktlich verkehrender Omnibus stürzt, gehören zu den wiederkehrenden Obsessionen der Gegenwartsliteratur. Lukas Bärfuss hat dazu mit seinem Roman "Hagard", der lieber eine Novelle wäre, ein mustergültiges Fallbeispiel beigesteuert. Hier ist es der Seiltänzer, der das letzte Wort behält, mit der Erzählperspektive spielt und der Geschichte flirtet, die er erzählen will, während er den Helden misstrauisch beschattet. Aber zum Glück rebelliert der Poltergeist gelegentlich gegen seine Nebenrolle.

Lukas Bärfuss ist alles andere als ein formvollendeter Autor. Aber er passt zu Georg Büchner. Und dazu, dass der Preis, der nach ihm benannt ist, nicht nur die Literatur der Bundesrepublik im Auge hat.

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SZ vom 10.07.2019
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