Wetterbericht (II): Schriftsteller über den Klimawandel:Ein blubbernder Teufelskreis

Strommasten fallen um, Pipelines, Landepisten und Gleise schlagen plötzlich Wellen. Nirgends erwärmt sich die Erde so stark wie im westlichen Sibirien - mit dramatischen Konsequenzen.

Sergej Kirpotin und Natalja Scharapowa

Das Klima wandelt sich. Hierzulande merkt man es nur peripher. Andere Gegenden verändern sich jedoch dramatisch. Aber wirkt sich das auch auf den Alltag aus? Wir haben Schriftsteller, Publizisten und Wissenschaftler in aller Welt gefragt, inwieweit sie den Klimawandel schon heute spüren. Uns erreichten alarmierende Texte genauso wie eher belustigte Betrachtungen. Während sich etwa die Briten offenbar in ein Volk von Sonnenanbetern verwandeln, wundern sich die Spanier, was wir Deutschen nur immer haben mit dieser Klimakatastrophe. Heute setzen wir unsere Klima-Serie fort mit einem Stück, das davon berichtet, in welch rasender Geschwindigkeit die sibirische Tundra auftaut.

Wetterbericht (II): Schriftsteller über den Klimawandel: Tundra in Sibirien: Wo früher Sümpfe waren, breiten sich nun Seen aus.

Tundra in Sibirien: Wo früher Sümpfe waren, breiten sich nun Seen aus.

(Foto: Foto: AP)

Freunde extremer Verhältnisse sind in Sibirien immer richtig. Der Amazonas ist eine drastische Umgebung, auch die Sahara, aber nichts ist mit der Tundra im Sommer vergleichbar.

Mit der gleißenden Sonne, dem Dschungel, den Insekten. Mücken umschwirren jedes Lebewesen als dunkle Wolken, kriechen selbst in zugeknöpfte Kragen. Beim Atmen verstopfen sie Mund und Nase, ihre Stiche lassen die Haut anschwellen. Ein Kessel auf dem Lagerfeuer zieht die Viecher erst recht an. Als anderthalb Zentimeter dicke Schicht lagern sie sich auf der Wasseroberfläche ab. Sie setzen sich auf Pizza, Suppe und Tee wie gemahlener Pfeffer.

Biorhythmus spielt verrückt

Außerdem geht in der Tundra im Sommer die Sonne nicht unter, sodass der Biorhythmus verrückt spielt. Manchmal schläft man tagelang nicht. Dann fällt man um wie ohnmächtig und kommt erst 48 Stunden später wieder zu sich. Das ist die Tundra.

Hierher, in den autonomen Jamal-Nenzen-Kreis, ist im Sommer 1989 unsere wissenschaftliche Expedition aufgebrochen mit Forschern der Tomsker Universität, Geologen, Botanikern, Zoologen, um Pflanzen und Tiere zu untersuchen.

Damals begriffen wir, wie außergewöhnlich das Leben im Permafrost ist. Auf einer gigantischen Fläche lassen sich völlig unterschiedliche Phasen der Erdgeschichte beobachten. In Skandinavien muss man dafür denselben Flecken über hundert Jahre immer wieder fotografieren, hier aber lässt sich die Dynamik auf einmal ablesen, alles geschieht gleichzeitig, pulsiert von einem Stadium ins nächste, und das ziemlich schnell.

Niemand dachte, dass das je Wirklichkeit werden könnte

Niemand verschwendete damals einen Gedanken an die Erderwärmung. Trotzdem ahnten wir, wie sensibel die Balance ist, auf der das ganze System beruht. Wir begriffen: Würde sich dieses Gleichgewicht nur ein wenig verschieben - so wie am Ende der letzten Eiszeit, als der gefrorene Boden schmolz und einsackte, was Wissenschaftler "Thermokarst" nennen -, dann würde ein Mechanismus ausgelöst, der nicht mehr zu stoppen sein würde.

Niemand aber dachte daran, dass das je Wirklichkeit werden könnte. Die Tundra lebte ihr kurzes Leben im sibirischen Sommer. In den Flüssen schwammen Fischschwärme, die so gewaltig waren, dass man sie sogar hören konnte, weil sie gegen die Wand unseres Bootes schlugen.

Unsere nächste Expedition fand fast zehn Jahre später statt, Forscher aus Sheffield und aus Schweden waren dabei. Und wir sahen, dass der Dauerfrost in den Sümpfen schneller taute. Eigentlich wollten wir ein gemeinsames Projekt beginnen, aber dann brach der zweite Tschetschenienkrieg aus, und viele ausländische Stiftungen stellten ihre Mittel für die Zusammenarbeit mit russischen Forschern ein.

Die Rückkehr war ein Schock

Erst im August 2004 war ich wieder mit einer internationalen Forschergruppe in der Tundra. Die Rückkehr war ein Schock. Wo früher Sümpfe waren, breiteten sich nun Seen aus, kleine Teiche waren zu großen Gewässern angewachsen.

Das Ufer eines Sees von etwa einem Kilometer Durchmesser hatte sich um fünfzig, siebzig Meter verschoben. Einige Seen erkannte man beim Vergleich mit den Luftaufnahmen von 1999 gar nicht wieder.

Früher bedeckten helle Flechten große Teile der Tundra. Sie reflektierten das Sonnenlicht und schützten den Boden vor starker Hitze. Jetzt aber war die Erde aufgeweicht und dunkel. Wir nahmen an, dass es einen kritischen Moment in diesem Verhältnis zwischen hellen und dunklen Flächen gegeben haben musste, einen Wendepunkt. Wenn dieser einmal überschritten war, ließe sich das Auftauen des Dauerfrostbodens nicht mehr aufhalten. Wir nannten diesen Moment den "ökologischen Erdrutsch".

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum die Erderwärmung in Sibirien gravierende Folgen für andere Weltregionen haben dürfte.

Ein blubbernder Teufelskreis

Und wir hatten recht. Das Auftauen des ewigen Eises hatte schon Jahre vorher eingesetzt, wir hatten nur den Anfang verpasst. Inzwischen schmilzt der Permafrost praktisch überall, die Veränderung des Bodenreliefs ist unumkehrbar. Die derzeitige Entwicklung übertrifft unsere damaligen Prognosen bei weitem. Allein die Geschwindigkeit der Veränderungen in den letzten vier, fünf Jahren ist atemberaubend.

Es ist kein Zufall, dass amerikanische Kollegen zur selben Zeit das Schmelzen der Polkappen beobachteten. In den vergangenen Jahren hat sich die Eisschicht der Arktis um etwa 16 Prozent verringert.

Einige Seen und Flüsse frieren gar nicht mehr zu

Anfangs dachte man, dies sei ein natürlicher Zyklus. Inzwischen wissen wir, dass sich dieser Prozess mit jedem Jahr beschleunigt. Die Erderwärmung lässt sich an vielen Stellen beobachten, aber nirgends vollzieht sie sich so schnell wie in Westsibirien. In den vergangenen zehn Jahren ist hier die Temperatur um 3,5 Grad angestiegen, im globalen Durchschnitt aber nur um 1,5 Grad. In ein paar Jahren wird diese Entwicklung Skandinavien und Kanada erreichen. Schon heute frieren in Westsibirien im Winter einige Seen und Flüsse gar nicht mehr zu.

Das "ewige Eis" bedeckt sechzig Prozent der Fläche Russlands. Doch das Eis ist nicht ewig, es lebt, ist instabil und veränderbar. Besonders anfällig für den globalen Klimawandel sind die hügeligen Moore, die einen großen Teil Westsibiriens beherrschen. Hat hier der Thermokarst einmal eingesetzt, könnte er weite Teile Sibiriens umfassen. Ein Viertel des sibirischen Nordens könnte auftauen, das sind 300.000 Quadratkilometer -fast so viel wie die Fläche Deutschlands.

Soziale und wirtschaftliche Erschütterungen

Dies alles zieht soziale und wirtschaftliche Erschütterungen nach sich - und riesige Kosten. Allein die Öl- und Gas-Industrie steht vor gewaltigen Problemen. In Nowyj Urengoi beispielsweise, wo eines der größten Gasfelder liegt, schmilzt das Eis am schnellsten.

Hier fallen reihenweise Strommasten um, die im Permafrost verankert sind. Also braucht man eine neue Technik. Pipelines, Landepisten, Gleise wurden Jahrzehnte durch die gefrorene Erde gestützt, nun stürzen sie um, reißen auf, schlagen Wellen. Häuser müssen mit Stahlbändern umgürtet werden, weil der Boden ins Rutschen kommt.

Aber dies alles sind Kleinigkeiten, verglichen mit der Gefahr durch das Methan. Die westsibirischen Moore enthalten etwa ein Viertel aller Kohlenstoff-Reserven des globalen kontinentalen Ökosystems.

Freigesetztes Methan beschleunigt Treibhauseffekt

In diesen Sümpfen hat sich über Jahrtausende eine riesige Torfschicht gebildet, die Kohlenstoff bindet. Tauen die Sümpfe, bauen die Bakterien diese organische Schicht ab, und der Kohlenstoff wird freigesetzt, der sich in Methan und Kohlensäure aufspaltet. Ihr Anteil in der Luft ist heute ohnehin der höchste seit 420.000 Jahren, seit jener Zeit also, über die wir gesicherte Aussagen treffen können.

Zwar enthält die Luft natürlicherweise viel mehr Kohlendioxid als Methan, aber Methan hat einen 20-mal stärkeren Treibhauseffekt. Einige Seen werfen inzwischen regelrecht Blasen, so viel Methan stoßen sie aus.

Um zu begreifen, was auf uns zukommt, muss man die Methan-Ablagerungen im Permafrost analysieren. Aber die Methoden dazu sind bis jetzt ungenügend und die Ergebnisse entsprechend diffus.

Dennoch sollten wir uns über die Dramatik der Situation keine Illusionen machen. Das freigesetzte Methan beschleunigt den Treibhauseffekt, die Erderwärmung schreitet schneller voran, die sibirischen Moore tauen noch rascher, und aus dem Schlamm der Seen blubbert weiteres Methan - es ist der Beginn eines ökologischen Teufelskreises.

Erderwärmung nicht mehr aufzuhalten

Gewiss, alle natürlichen Systeme haben riesige Pufferzonen, um solche Prozesse auszugleichen. Aber die Erderwärmung, die teils natürlich und teils vom Menschen ausgelöst ist, wird sich nur noch verlangsamen lassen, aber nicht mehr aufhalten.

Sergej Kirpotin ist Schriftsteller und Biologie-Professor an der Universität Region Tomsk. Natalja Scharapowa ist Publizistin und Wissenschaftsjournalistin.

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