Die sogenannte Wahrscheinlichkeit, heißt es ja immer, solle im Kino möglichst nicht ihr hässliches Medusenhaupt erheben, das jede Phantasie zu Stein erstarren lässt. Schon gar nicht bei Festivals. Das tranceartige Gefühl, das Filmkonsum in hoher Dosis auslöst, hilft dem Zuschauer zwar über so manche Drehbuchlücke hinweg, die unter anderen Umständen vielleicht stärker aufgefallen wäre. Wenn aus diesen Lücken dann allerdings kraterartige Löcher werden, dann gibt es doch wieder ein unsanftes Erwachen.
So war es zum Beispiel bei dem Wettbewerbsbeitrag "Layla Fourie" von Pia Marais, einer in Johannesburg geborenen Tochter eines Südafrikaners und einer Schwedin, die in Berlin lebt und bisher vor allem in Deutschland gearbeitet hat ("Die Unerzogenen", "Im Alter von Ellen"). Jetzt hat sie in Südafrika gedreht, mit einer schwarzen, alleinerziehenden Heldin (Rayna Campbell), die mit ihrem Jungen gerade dabei ist, der Armut und Gewalt ihrer Umgebung zu entkommen. Dann aber überfährt sie einen Weißen, der mitten in der Nacht auf einer stockfinsteren Landstraße steht, und aus eher rätselhaften Gründen beschließt sie, die Leiche lieber verschwinden zu lassen.
Pia Marais möchte nun ihre Heldin gern mit dieser Schuld konfrontieren, mit den Folgen für andere und mit den Lügen, die ihre Entscheidung nach sich zieht. Und zwar koste es, was es wolle.
Layla Fourie muss also den Sohn und die Frau ihres Opfers kennenlernen, unwahrscheinlich genug, und dann, noch viel unerklärlicher, fast den ganzen Film mit den beiden verbringen. Der Sohn (August Diehl mit Afrikaans-Akzent) verdächtigt sie mehr oder weniger sofort, obwohl er zunächst keinen Grund dafür hat, und es ist schon wirklich peinigend amateurhaft und willkürlich, wie das Drehbuch diese beiden dann trotzdem immer wieder zusammenzwingen will.
Alle Filme des Wettbewerbs der Berlinale 2013:Im Strudel der Gefühle
Es geht um Lebenslügen, die Sehnsucht nach Liebe und die Wahrhaftigkeit: Die Filme im Wettbewerb der Berlinale behandeln das ganze Spektrum an menschlichen Emotionen. Oft stehen dabei Frauen im Mittelpunkt - und die gesellschaftlichen Verwerfungen, die die ganze Welt auf Trab halten.
Solche Anfängerfehler macht ein Mann wie Steven Soderbergh natürlich nicht - obwohl er sich mit seinem Thriller "Side Effects", der ebenfalls um den Goldenen Bären konkurriert, auch einiges an starken Behauptungen vorgenommen hat. Im Zentrum steht die großäugige junge Emily (Rooney Mara) im Strudel des gesellschaftlichen Abstiegs - ihr Mann ist einer der wenigen Wall-Street-Figuren, die tatsächlich im Knast gelandet sind. Das schreit nun geradezu nach starken Antidepressiva.
Diese verabreicht ihr der verständnisvolle Psychiater Jude Law in Form eines neuen Supermedikaments, das allerdings starke Nebenwirkungen hat - hier fungiert schon der Filmtitel gewissermaßen als Beipackzettel. Manhattan im weichen Fokus einer nur mühsam kontrollierten Depression, da zeigt Soderbergh als Regisseur und auch als sein eigener Kameramann noch einmal sein ganzes Können. Dann liegt allerdings Emilys Ehemann, gerade erst aus dem Gefängnis entlassen, plötzlich ermordet im Bett. Und als Täterin kommt wirklich nur sie infrage.
Jetzt wäre es eine Sache, diesen Mord gewissermaßen als medizinische Nebenwirkung zu klassifizieren und dabei noch allerlei Machenschaften der Pharmaindustrie aufzudecken. Das reicht dem Drehbuchautor Scott Z. Burns aber nicht, stattdessen wählt er den Pfad der aberwitzigen Twists, der meist zu Recht direkt ins Videothekenregal führt. Alles soll plötzlich ein gewaltiger und sehr komplizierter Geheimplan sein, um den Ehemann aus der Welt zu schaffen. Warum nicht einfach eine Scheidung, wo das Geld doch jetzt sowieso weg ist? Falls "Side Effects" dafür eine Erklärung liefert, müssen wir sie wohl verpasst haben.
Steven Soderbergh hat derweil in ungefähr tausend Interviews angekündigt, dies werde sein letzter Kinofilm sein. Die Begründung lässt sich recht gut mit den Worten "keine Kraft mehr" zusammenfassen. Soderbergh ist damit der erste Regisseur seit 719 Jahren, der freiwillig von seinem Amt als Kinopapst zurücktritt, und wir können ihn gut verstehen. Diese ständigen Kämpfe mit der sogenannten Wahrscheinlichkeit, die an jeder Ecke wieder ihr hässliches Haupt erhebt, so oft man es mit ein paar brillanten Filmschnitten auch schon abgetrennt hat - das kostet irgendwann wirklich den letzten Nerv.