Wirtschaftsgeschichte:Warm ist das Herz des Kapitalismus

Venedig

Die Arbeit müsse ausgebeutet werden, um die Arbeiter mit erschwinglichen Gütern zu versorgen, schreibt Werner Plumpe.

(Foto: Regina Schmeken)
  • In seinem Buch "Das kalte Herz: Geschichte und Zukunft des Kapitalismus" kommt der Wirtschaftshistorker Werner Plumpe zu unorthodoxen, positiven Urteilen über die Mechaniken kapitalistischen Wirtschaftens.
  • Die Theorien von Ökonomen sind bei ihm eher Teil des Gegenstands, den es zu erklären gilt, als Teil der Erklärung.
  • Selbst die Kritik an ihm ermögliche der Kapitalismus auf besonders effiziente Weise, so Plumpe.

Gastbeitrag von Dirk Baecker

In Werner Plumpes großartiger Geschichte des Kapitalismus hat dieser einen entscheidenden Defekt. Er erkauft die Vorteile einer immer kapitalintensiveren Produktion mit den Nachteilen der Abhängigkeit der Arbeit. Das ist kein Widerspruch, der den Kapitalismus irgendwann zwingt, sich selbst aufzuheben, sondern eine unvermeidliche Randbedingung einer Massenproduktion für den Massenkonsum, die ohne massiven Kapitaleinsatz nicht möglich ist. Karl Marx stellte sich vor, dass die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu einer humanen Gesellschaft führt, die ohne dieses Moment der Abhängigkeit auskommt, doch Plumpe argumentiert mit John Maynard Keynes, dass eine kapitalintensive Industrie hohe Investitionsquoten voraussetzt, die wiederum nur möglich sind, wenn dem Produktionsprozess ein Vermögen entnommen wird, das gespart und reinvestiert werden kann.

Soziale Ungleichheit ist damit unvermeidbar. Die einen arbeiten und konsumieren; die anderen lassen arbeiten und investieren. Das gilt auch dann, wenn das Privateigentum in modernen Ökonomien nicht mehr unbedingt in der Hand identifizierbarer Kapitalisten, sondern einer breit gestreuten Menge von Aktionären, Pensionsfonds und Ähnlichem ist.

Dieser Defekt des Kapitalismus ist die Kehrseite einer überwältigenden Erfolgsgeschichte, die Plumpe in angemessener Ausführlichkeit und immer wieder gelingender Zuspitzung auf überraschende Einsichten erzählt. Man sieht dem Buch an, dass es die Summe einer jahrzehntelangen Arbeit und einer intensiven Auseinandersetzung mit der klassischen ebenso wie der neuesten Literatur ist.

Der neueste Forschungsstand bestätigt nicht immer die Theorien der Klassiker. So kann Plumpe mit dem Wiener Wirtschaftshistoriker Michael Mitterauer zeigen, dass weder der Luxuskonsum, den Werner Sombart für die Ausbreitung des Handwerks und Gewerbes in der frühen Neuzeit verantwortlich macht, noch die protestantische Ethik, die für Max Weber Prämien auf ein arbeitsreiches Leben setzt, den Take-off des Kapitalismus begründen, sondern die Roggenkultur. Der Roggen wächst auf schweren Böden, die nur durch den Einsatz entsprechend schweren Geräts, vor allem von Pflügen, bearbeitet werden können. Dies führte bereits im 8. und 9. Jahrhundert unter der Bedingung einer relativ freien Grundherrschaft zu einer Allianz zwischen Bauern und Handwerkern sowie zu einer Steigerung der Produktivität, sodass eine wachsende Bevölkerung der Städte ernährt werden konnte, die wiederum für einen einigermaßen berechenbaren Absatz sorgten.

Dieses Dreigestirn von angebotselastischer Arbeit, Technikeinsatz und marktabhängigem Konsum ist die Maschine, die den Kapitalismus seither antreibt. Kapitalismus, so definiert Plumpe, ist eine Wirtschaftsform, die durch hohen Kapitaleinsatz Massenproduktion für den Massenkonsum ermöglicht.

Er unterstreicht die Pointe, die in dieser Definition liegt. Der Kapitalismus ist eine "Ökonomie der armen Leute und für arme Leute". Er löst die Unterbeschäftigungskrise, die im Ausgang aus dem Mittelalter endemisch wird, durch das Angebot von abhängigen Arbeitsplätzen und er versorgt eine wachsende Bevölkerung mit erschwinglichen Gütern und Leistungen. Mit der Paradoxie, dass die Arbeit ausgebeutet werden muss, um die Arbeiter mit den Gütern und Dienstleistungen zu versorgen, die sie, freilich mithilfe des Einsatzes von Geld- und Realkapital, selbst erzeugen, muss der Kapitalismus nicht zum Schaden seiner Theoretiker, denen der Stoff nie ausgeht, leben.

Unternehmer entdecken neue Absatzchancen, Konsumenten werden zahlungsfähig genug, die Produkte auch abzunehmen

Angebotselastizität ist das erste Zauberwort in Plumpes Geschichte. Er ist im Übrigen sparsam mit der Übernahme wirtschaftswissenschaftlicher Begriffe. Ökonomen sind mit Ausnahme von Keynes eher Teil des Gegenstands, den es zu erklären gilt, als Teil der Erklärung. Aber mit dem Begriff der Angebotselastizität wird das eigentliche Rätsel der kapitalistischen Entwicklung erklärt: In den oberitalienischen Städten, die sich auf den Gewürzhandel mit Asien konzentrieren, in Flandern und England, die in die Textilindustrie investieren, in Deutschland und in der Schweiz, wo die Bierbrauerei und der Buchdruck sowie später die Chemie- und Pharmaindustrie hohe Kapitalsummen erfordern, in Amerika, das mit der Eisenbahn die eigenen Märkte erschließt, und schließlich in China und Indien, die damit beginnen, ihr Arbeitspotenzial zu erschließen.

Der entscheidende Punkt ist, dass Unternehmer neue Absatzchancen entdecken und Konsumenten zahlungsfähig genug sind, die Produkte auch abzunehmen. Die Voraussetzungen dafür sind hinreichende Beweglichkeit aller Akteure, Ausbildung zur Klugheit bei den einen und Duldungsbereitschaft bei den anderen, Technikeinsatz und politische Garantien der Rechtssicherheit und der Verfügungsrechte aus Privateigentum. Plumpe widmet vor allem der Entwicklung institutioneller Regelungen durch die Politik viel Aufmerksamkeit. Er kann zeigen, dass es nicht zuletzt die Kritik am Kapitalismus ist, die immer wieder neue Regelungen von der Ordnung der Staatshaushalte bis zur Schaffung von Arbeitsrechten und zur Einrichtung der Sozialversicherung anregt. Und er kann zeigen, dass die Kleinteiligkeit der Fürstentümer und später die Konkurrenz der Nationen dem Erfindungsreichtum politischer Regelungen und wechselseitigen Lerneffekten keinen Abbruch tut.

Allerdings kommen mit den Währungen der verschiedenen Länder auch Wechselkurse und Handelsbilanzsaldeneffekte ins Spiel, die bis in die Gegenwart hinein größte Störungen des freien Handels auf effizienten Märkten bewirken.

Das zweite Zauberwort, ebenfalls den Wirtschaftswissenschaften entlehnt, heißt Skalenökonomie. Skalenökonomie ist die Entdeckung, dass die Grenzkosten mit wachsender Produktion nicht etwa steigen, sondern sinken. Je mehr Einheiten bestimmter Güter und Dienstleistungen produziert werden können, desto geringer sind die Preise, die für sie verlangt werden müssen. Das gilt zunächst für Güter und Dienstleistungen, dann für Transport, Versicherung und Finanzierung, schließlich für den Maschinen- und Anlagebau und nicht zuletzt sogar für die Unternehmensgründung und Unternehmensführung, die von marktgängigen Management- und Beratungsleistungen abhängig werden und auch hier erhebliche Rationalisierungsgewinne durch Professionalisierung und Standardisierung einfahren.

Vom Roggen, den Gewürzen, Holz, Glas und Fellen über die Leinen- und Baumwollkleidung, Bücher und Zeitschriften, Webstühlen und Dampfmaschinen bis zu Farben, Medikamenten, Unterhaltungsgeräten, Urlaubsreisen und der internationalen Küche basiert die Geschichte des Kapitalismus auf Skaleneffekten.

Kritik an der Massenkultur? Aristokratisch!

Sogar die Kulturkritik des Kapitalismus profitiert davon, dass bestimmte Argumente mit immer geringerem Aufwand und größerer Reichweite vorgetragen werden können. Das gilt vor allem für jene Kritik, welche die Produkte des Massenkonsums aus Geschmacksgründen ablehnt. Wer sich auf seinen Geschmack beruft, argumentiert im Sinne der Tradition aristokratisch; und daraus können alle möglichen Werte der Distanz gegenüber einer Massenkultur abgeleitet werden.

Wenn die Angebotselastizität und die Skalenökonomie das eine Ende des Spannungsbogens definieren, mit dem Plumpe die Geschichte des Kapitalismus erklärt, so stehen der Wiedereinstieg Chinas und Indiens in diese Geschichte und ein mögliches Ende der Knappheitskultur am anderen Ende. Dieses andere Ende führt zu höchst ambivalenten Einschätzungen der gegenwärtigen Aussichten des Kapitalismus. Plumpe widmet einige herrliche Seiten, offenbar auch aus eigener Anschauung gewonnen, jenen 1960er- und 1970er- Jahren in Westeuropa und Amerika, in denen der Massenkonsum auch die Jugendlichen erreicht und von einer Jugendbewegung aufgenommen wird, die dank der Transistorgeräte in der Unterhaltungsindustrie unabhängig von den Standgeräten wird, die nach wie vor die Altvorderen kontrollieren.

Es entsteht ein überaus angebotselastisches und skalenökonomisches Universum neuer Musikstile, die allesamt unter dem Verdikt schlechten Geschmacks erst recht erfolgreich werden. Vor allem jedoch verlieren jene Vorstellungen und Werte der Sparsamkeit, Zurückhaltung und Wiederverwendung an Überzeugungskraft, die eine Welt der Knappheit erträglich gemacht haben. Eigennutz, bisher als sündhaft verschrien, wird nicht gerade hoffähig, aber doch als Grundlage jener Selbstverwirklichung anerkannt, die erst den mündigen Konsumenten schafft.

Leben wir tatsächlich in einer Überflussgesellschaft? Sind es nicht mehr die Waren, sondern die Kunden, die knapp werden, wie Plumpe Niklas Luhmann zitiert? Ökonomen wie Carl Christian von Weizsäcker sprechen sogar von einem "Ende der Kapitalknappheit", weil die sinkenden Zinsen bei wachsenden Staatsschulden ein deutliches Zeichen dafür sind, dass die Produktionsumwege ausgeschöpft sind und mehr Kapitaleinsatz im Moment nicht möglich ist. Weizsäcker spricht in diesem Zusammenhang von einem "natürlichen Zins", der die erreichte Marktsättigung mit dem Wunsch der Anbieter nach Marktausdehnung ausgleicht. Es lohnt sich nicht mehr. Mit Marx würde man vermutlich eher annehmen, dass es sich um einen "gesellschaftlichen Zins" handelt, der die wachsenden Staatsschulden mit Produktionsverhältnissen in Einklang bringt, die neuen Produktivkräften noch keine Chance geben. Die Entwicklung des Kapitalismus schäumt vor der Schwelle zu Durchbrüchen in ein neues Produktionsregime, das erst in Zukunft durch den weiteren Einsatz elektronisch automatisierter Produktion möglich wird.

Gelegenheiten ziehen Leute nach sich, wenn dem keine Verbote im Wege stehen

Auf der anderen Seite wiederholt sich in China und Indien die alte Geschichte der Bewältigung einer Unterbeschäftigungskrise. China und Indien reformieren auf unterschiedliche Weise ihre institutionellen Regelungen, ermöglichen die Ausschöpfung eines gewaltigen Reservoirs an Arbeitsvermögen und erschließen sich zunehmend die Konsummärkte, auf denen nicht nur die ausländische, sondern auch die inländische Nachfrage generiert und befriedigt werden kann.

Werner Plumpe erzählt auch diese Geschichte mit Respekt und Augenmaß, obwohl man spätestens jetzt gerne genauer wüsste, welche Akteure mit welchem Selbstverständnis hier so elastisch auf die neuen Möglichkeiten reagieren. Plumpes Geschichte des Kapitalismus rechnet eher mit Pull- als mit Push-Faktoren. In seiner Darstellung ziehen Gelegenheiten Leute nach sich, wenn dem keine Verbote im Wege stehen. Nur selten schaffen Leute sich ihre Gelegenheiten.

Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass die Zeit als ein weiterer Faktor eines ökonomischen Kapitalbegriffs unterschätzt wird. Dass Kapital Zeit bindet, ist Plumpe bewusst. Und dass zeitliche Bindungen spekulative Bereitschaften voraussetzen, ebenfalls. Wenn eine kapitalintensive Produktion erst morgen Erfolge in Aussicht stellt, kann heute nur spekulativ mit diesen Erfolgen gerechnet werden. Doch das wirft die Frage auf, wer auf den Arbeits-, Güter- und nicht zuletzt Kapitalmärkten dieses Kapitalismus zu welchen Spekulationen bereit und fähig ist. Zukünfte müssen entworfen werden. Wer ist dazu in der Lage? Und wer hält die damit einhergehende Ungewissheit aus?

Plumpes Geschichte des Kapitalismus zeigt auf eindrückliche Weise, wie sehr die Skalenökonomie des Kapitalismus in technische, politische und auch kulturelle Faktoren eingebettet ist. Ausbeutung, Kolonialismus, politische Gewalt und Kriegswirtschaft werden nicht verschwiegen, doch erweisen sie sich allesamt (mit Ausnahme der britischen Kolonie Indien) als Strategien der kürzeren Reichweite. Allenfalls über den Titel des Buches könnte man streiten. Kalt ist das Herz des Kapitalismus, weil er denen die Anteilnahme verweigert, die auf dem Markt keinen Erfolg haben. Doch warm ist das Herz des Kapitalismus, wenn man in Rechnung stellt, welches Bevölkerungswachstum und welchen Abschied von der Armut er ermöglicht hat.

Der Soziologe Dirk Baecker lehrt an der Universität Witten/Herdecke. 2018 erschien sein Buch "4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt" (Merve Verlag).

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