Werkstatt Demokratie:"Wer Fremde ausschließt, hat kein souveränes Verhältnis zur Heimat"

Werkstatt Demokratie: Geht es nach Christoph "Stofferl" (l.) und Michael Well, wird Europas kulturelle Seite zu wenig betont.

Geht es nach Christoph "Stofferl" (l.) und Michael Well, wird Europas kulturelle Seite zu wenig betont.

(Foto: Daniel Hofer; Illustration Jessy Asmsus)

In ihrer Musik leben die Well-Brüder Christoph und Michael bairische Mundart, Brauchtum und Tradition. Ein Gespräch über Souveränität, Baumärkte und was Beerdigungen mit Heimat zu tun haben.

Interview von Jakob Biazza und Carolin Gasteiger

Mit der Heimat sei es wie mit einem Musikstück, sagen die Well-Brüder, die zusammen mit ihrem Bruder Hans die mittlerweile aufgelöste Musik- und Kabarettgruppe Biermösl Blosn bildeten. Man spielt schon das, was man kennt, erweitert es dann aber mit etwas Neuem. Und entwirft so seine eigene Musik. Ähnlich dynamisch begreifen Christoph "Stofferl" und Michael Well den Ausdruck "Heimat": durch erhalten und erneuern. Staaten oder Nationen brauchen sie dafür gar nicht. Wie sich Heimatverbundenheit und Europa vertragen, erzählen sie bei Tee und Kuchen.

SZ: Woran denken Sie zuerst, wenn Sie das Wort "Heimat" hören?

Michael Well: An die ganz naheliegenden Dinge: die Sprache, die unmittelbare Umgebung - also vor allem die Familie und Freunde. Und dann recht bald auch an Musik, mit der ich großgeworden bin.

Dieser Artikel gehört zur Werkstatt Demokratie, ein Projekt der SZ und der Nemetschek Stiftung. Alle Beiträge der Themenwoche "Heimat Europa" finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Christoph Well: Ich denke an Menschen, die einen ähnlichen "Host mi" haben, wie wir in Bayern sagen würden - also denselben Humor, dieselbe Sprache. Irgendwas, über das eine Ebene entsteht, auf der man kommuniziert. Und dann denke ich an das Dorf, in dem ich auf die Welt gekommen bin: Günzlhofen. Wenn ich dahin zurückkomme, ist das für mich immer noch Heimat, auch wenn inzwischen viel umgebaut ist. Ich rieche die Welt von damals sofort wieder. Ich weiß, wo wir gespielt, wo wir Lager ausgegraben und Burgen gebaut haben. Ich nehme das immer noch mit allen Sinnen wahr.

Michael Well: Das stimmt. Der Begriff spricht alle Sinne an, weil er emotional ist. Heimat ist kein politischer Begriff.

Auf jeden Fall bezieht er sich aber auf die Kindheit und scheint an einen bestimmten Ort gebunden zu sein.

Christoph Well: Sagen wir besser: an eine Gegend. Die Heimat meiner Eltern, bei Aichach, ist für mich auch Heimat. Da kenne ich auch jeden Stein. Oder kannte. Denn da ist bei der Flurbereinigung viel durcheinandergekommen.

Werkstatt Demokratie: Für ihn braucht es weder Staat noch Nation. Aber eine Umgebung, die kulturell funktioniert.

Für ihn braucht es weder Staat noch Nation. Aber eine Umgebung, die kulturell funktioniert.

(Foto: Daniel Hofer; Illustration Jessy Asmus)

Womit wir auch schon bei der Heimatzerstörung wären. Was macht Heimat kaputt?

Michael Well: Wenn im Natursektor alles aus den Angeln gehoben wird. Wenn es nur noch Produktionsfläche gibt. Wenn im Dorf keine Infrastruktur mehr existiert: Da, wo ich seit 20 Jahren wohne, gab es früher einen Metzger, eine Post, eine Bank. Das ist alles weg und damit verschwinden Orte, an denen Menschen sich treffen und austauschen können.

Die Heimat geht mit Veränderung also verloren?

Michael Well: Nein, Heimat darf und muss sich entwickeln. Niemand braucht ein Museumsdorf, das nur konserviert. Aber ihr Charakter ist gefährdet, wenn das Bewusstsein für Traditionen fehlt.

Was bedeutet das?

Michael Well: Es gibt Gegenden auf der Welt, in denen gibt es mehr Bewusstsein für die Substanz, die man hat. Für Bautraditionen. Bei uns herrscht ein Kuddelmuddel an Baustilen, an Häusern. Das ist ganz grausig.

Christoph Well: Die Leute haben irgendwann ihre kleinen Nebenerwerbslandwirtschaften aufgegeben und sind in die Arbeit gegangen. Und dann haben sie Geld verdient und angefangen, ihre Häuser, ihre Einrichtungen, ihren ganzen Geschmack zu ändern.

Michael Well: Dann sind die Baumärkte gekommen, die von Kiel bis Berchtesgaden die exakt gleichen Baustoffe anbieten.

Christoph Well: Von Kiel bis Sizilien.

Michael Well: Früher hat man mit dem gebaut, was da war: regionales Holz, regionaler Stein. In Italien kann man manchmal die Dörfer in der Landschaft fast nicht ausmachen, weil sie sich so gut einfügen. Diese Symbiose gibt es bei uns kaum noch. Und für mich ist das mit einer schleichenden Entfremdung verbunden.

Christoph Well: Der Knackpunkt ist: Wie schafft man es, die Tradition weiterzuentwickeln?

Und, wie schafft man das?

Christoph Well: Auf der einen Seite braucht es ein retardierendes Element, also etwas Konservatives - ich will etwas erhalten, das ich gernhabe. Und auf der anderen Seite muss es eine Offenheit geben, aus der etwas Neues entsteht. Und schon hat man einen lebendigen Heimatbegriff. Das ist wie bei einem Musikstück: Wer komponiert nimmt etwas, das er kennt, die Tradition also, und fügt dem eine eigene Note, eine eigene Gestaltung hinzu. Die basiert auf meiner Entwicklung, auf meinem Bewusstsein, also auf der Art, wie ich die Welt erlebt und verarbeite habe. So entsteht ein neues Stück, das auf dem Humus von früher gewachsen ist. Für Bach war Monteverdi Heimat. Für Mozart waren es Bach und Monteverdi. Für Beethoven waren es Mozart, Bach und Monteverdi. Und immer so weiter.

Michael Well: Oder um wieder ganz konkret aufs Dorf zurückzukommen: Man kann modern bauen, aber eben mit Materialien, die aus der Umgebung kommen - und damit zu ihr passen. Wenn man das tut, unterscheidet sich Berchtesgaden weiterhin von Kiel.

"Die Region wird von innen heraus bedroht"

Und das ist wichtig?

Michael Well: Regionale Unterscheidungen sind sehr wichtig, ja.

Kann eine selbstbewusste Identität also nur durch Regionalismus entstehen?

Michael Well: Ganz genau. Ich brauche jedenfalls keinen Staat und keine Nation. Ich brauche einfach nur eine Umgebung die funktioniert. Kulturell!

Christoph Well: Wenn 1860 verliert, ist das schlimmer für mich, als wenn Deutschland verliert. (lacht)

Regionale Unterschiede verschaffen also ein eigenes Selbstbewusstsein. Wie unterscheidet sich regionale Abgrenzung von einer nationalen?

Christoph Well: Die Nation wird durch andere Nationen bedroht. Und die Region wird von innen heraus bedroht. Durch den Verlust der kulturellen Identität und Souveränität. Die Nation stülpt dir eine Identität über, die mit deiner Kultur nichts zu tun hat.

Nationale Identität kommt also von außen und regionale von innen?

Michael: Ganz genau.

Michael Well: Und deshalb können nationale Grenzen auch so leicht verschoben werden.

Christoph Well: Wenn wir die Schlacht in Königgrätz nicht verloren hätten, wären wir heute keine Deutschen.

Werkstatt Demokratie: Aktuelle Stimmungslage: mehr europäisch als deutsch.

Aktuelle Stimmungslage: mehr europäisch als deutsch.

(Foto: Daniel Hofer; Illustration Jessy Asmus)

Braucht es Heimat dann überhaupt?

Michael Well: Jeder Mensch hat eine soziale Sehnsucht. Ein Bedürfnis nach einem Umkreis, in dem er sich wohlfühlt.

Heimat impliziert also auch ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl. Steckt in dem nicht auch das Bedürfnis, unter sich zu sein?

Michael Well: Ich würde eher von Vertrautheit sprechen. Wenn ich am Flughafen ankomme und es redet mich einer auf Bayerisch an, kenn' ich den Klang. Das kann trotzdem der letzte Depp sein, aber er ist mir vertraut.

Christoph Well: Oskar Maria Graf schildert in "Das Leben meiner Mutter", wie er ins Exil muss. Am Schluss sieht er irgendwo in Tschechien eine Bäuerin auf dem Feld arbeiten. Die erinnert ihn so sehr an seine Mutter, dass er gedanklich wieder am Starnberger See ist. Es braucht also nicht mal unbedingt dieselbe Sprache oder tatsächliche Herkunft.

Aber dieses Zusammengehörigkeitsgefühl kann doch auch negativ verwendet werden, wenn sich viele darüber abgrenzen. Nach dem Motto: Heimat sind wir, Ihr seid die anderen.

Michael Well: Mia san mia.

Zum Beispiel.

Michael Well: Das ist Angst vor etwas Fremdem. Und das genaue Gegenteil davon meine ich, wenn ich von Souveränität spreche. Wer Fremde ausschließt, hat kein souveränes Verhältnis zu seiner Heimat - oder sich selbst.

Wie kann diese Souveränität entstehen?

Christoph Well: Einen gemeinsamen Nenner braucht man. Wenn in einem Dorf hundert Leute wissen: Der Birnbaum ist schön, den müssen wir uns erhalten, entsteht eine Gemeinsamkeit. Und damit eine Heimat, zu der eben auch der Birnbaum gehört.

Michael Well: Und genau das meine ich mit Identität.

Christoph Well: Etwas Schönes wird ja auch noch mal unendlich viel schöner, wenn du es mit anderen teilen kannst - wenn viele erkennen, dass etwas schön ist. Und je mehr Menschen sagen, dass etwas schön ist, desto wahrer wird es.

Ist Heimat am Ende also einfach ein anderes Wort für eine Gemeinschaft, die sich auf ein paar Werte geeinigt hat?

Christoph Well: Nur, wenn dir die Gemeinschaft genug Freiheit lässt. Aber dann: absolut.

Sie haben gesagt, dass Sie für Ihr Heimatempfinden keine Nation brauchen. Fühlen Sie sich auf irgendeine Art auch deutsch?

Christoph Well: Da fühle ich mich noch eher europäisch. Riesige Teile meiner kulturellen Identität basieren schließlich auf Einflüssen aus ganz Europa: Griechenland, das alte Rom, oder Frankreich ... Das ist ja auch das, was Europa wirklich einmalig macht: seine Kulturgeschichte. Eine gemeinsame kulturelle Vergangenheit - seien es jetzt die Römischen Gesetze oder meinetwegen auch der Katholizismus. Das ist eine kulturelle Verbundenheit und darin: heimatprägend.

Michael Well: Leider kommt das im Europagedanken viel zu wenig zum Tragen.

Was kann das einende Gefühl für Europa sein? In Europa leben schließlich auch wieder Menschen aus Hamburg und Kiel mit ihren Baumarktmöbeln und Gartengarnituren.

Christoph Well: Ja, aber auch die hören bestimmt gern Mozart und sind ergriffen, wenn sie die Pietà im Vatikan sehen.

Michael Well: Für mich sind die Grund- und Menschenrechte auch ein extrem einendes Element - die sind schließlich die ur-europäischste Erfindung. Ein moralischer Wertekodex, der viel mehr im Vordergrund stehen müsste. Das klingt leider immer so abstrakt, aber was es bedeuten kann, sehe ich jeden Tag daheim: Ich bin mit einer Französin verheiratet, und ihr Großvater und mein Großvater standen sich an der Somme noch gegenüber und haben aufeinander geschossen. Und jetzt sind ihre Enkel miteinander verheiratet. Mehr muss man über dieses wunderbare Gebilde doch eigentlich nicht sagen.

Das heißt: Heimat und Europa vertragen sich gut?

Michael Well: Ja freilich. Und wie! Jedes Gesetz, jede Regelung und Struktur, die mich nicht beschneidet, eröffnet mir Räume, in denen ich Dinge machen kann. Für mich ist Europa das Gegenteil von einengend.

Fehlt Europa Ihrer Meinung nach das einende Gefühl?

Christoph Well: Vielleicht war die EU einfach viel zu lang eine reine Wirtschaftsgemeinschaft?

Das ist jetzt eine rhetorische Frage, gell?

Christoph Well: (lacht)

Michael Well: Die kulturelle Seite wird zu wenig betont und ausgelebt.

Christoph Well: Und deshalb ist es noch für zu wenige Menschen Heimat.

Wie betont man die kulturelle Seite mehr?

Christoph Well: Indem man die Augen öffnet. Wenn ich bei Palermo in der Kathedrale von Monreal stehe, und ich sehe diese irrsinnige Mosaikkunst und diesen wahnsinnig tollen Bau: Das ist doch ein Geschenk an die Menschheit. Ich freue mich dann immer wahnsinnig, zum Kulturkreis zu gehören, der so was geschaffen hat. Das ist ja ein europäisches Gesamtkunstwerk. Ich hab' während der Diskussion übrigens einen ganz anderen Gedanken gehabt.

Welchen denn?

Christoph Well: Wirklich aufdrängen tut sich die Frage nach der Heimat doch erst, wenn man stirbt: Wo will man beerdigt werden? Ich überlege zum Beispiel: Will ich hier in Haidhausen liegen, oder in Günzlhofen, wo ich herkomme.

Und?

Christoph Well: Ich weiß es noch nicht. Vielleicht habe ich auch noch ein bisschen Zeit? (lacht)

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