Süddeutsche Zeitung

Werkstatt Demokratie:"Heimat ist eine Art seelische Tankstelle"

Was bedeutet Heimat? Und was Europa? Das haben wir Zugezogene und Einheimische gefragt - in einer Region, die als besonders heimatverbunden gilt, aber dafür keine Grenzen braucht.

Von Carolin Gasteiger

Beatrix Becker ist in Mainz geboren und lebt seit drei Jahren in Bad Reichenhall. Seit Dezember 2018 arbeitet die 30-Jährige als Oberfeldärztin in der Gebirgsjägerbrigade 23 "Bayern".

In der Region hier ist der Heimatbegriff stark ausgeprägt: all diese Trachtenumzüge, Blaskapellen und Tänze, die die Menschen hier pflegen. Ursprünglich komme ich aus Mainz und dort gibt es das nicht, Bräuche und Traditionen so hochzuhalten. Mit den Traditionen hier in Bayern fremdele ich deswegen aber nicht. Ich finde es schön, wenn die Einheimischen auf diese Weise mit ihrer Heimat verbunden sind und das nach außen tragen. In anderen Regionen schlafen Brauchtum und Tradition eher ein.

Auch wenn man es bei all dieser Traditionsverbundenheit nicht glauben würde, ist es mir als Zugereiste nicht schwergefallen, mich einzugewöhnen. Ich habe sogar ein Dirndl im Schrank hängen. Nach der Grundausbildung im niederbayerischen Feldkirchen und diversen Lehrgängen in München bin ich quasi Opfer der Tradition geworden. Und Bairisch verstehe ich inzwischen auch gut. Sprechen würde ich es selbst aber nie, das klänge zu gekünstelt. Meine Kinder kennen natürlich keine andere Heimat als Bad Reichenhall und bringen schon bairische Ausdrücke mit nach Hause.

Als Soldatin profitierte ich davon, dass viele meiner Kameraden auch nicht von hier kommen. Das schafft Zusammenhalt. Auch in unserer Nachbarschaft konnten wir schnell Kontakte knüpfen. Ein bisschen Heimat haben mein Mann und ich - er kommt aus der Pfalz - auch mit hierhergenommen: die Weinkultur. Abends zusammensitzen und gemeinsam Wein trinken, das setzen wir hier fort, oft zu Hause, manchmal auch in der kleinen Vinothek im Stadtzentrum. So schaffen wir uns sozusagen einen Mix aus alter und neuer Heimat.

Das Europagefühl fehlt

Was mir aber auch klar ist: Als Soldatin werde ich nicht ewig hier bleiben, sondern auch mal an andere Standorte innerhalb Europas gehen. Das Nato-Hauptquartier im belgischen Mons etwa oder eine Stelle im Eurokorps in Straßburg wären für mich als Ärztin interessant. Das ist für mich selbstverständlich. Ich bin in der Europäischen Union mit dem Euro großgeworden und halte es für selbstverständlich, durch offene Grenzen etwa nach Österreich zu fahren.

Aber die Europäische Union schafft es gerade nicht, dieses Europagefühl zu vermitteln. Alles, worüber die Menschen sprechen, sind die Institutionen der EU. Was viele vergessen: Wir sind Teil einer Friedensgemeinschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurde und das sollte auch Teil unseres Selbstverständnisses sein. Mit der Bundeswehr haben wir natürlich auch Übungen im europäischen Ausland. Wir arbeiten beispielsweise bei der Ausbildung der Heeresbergführer eng mit dem Österreichischen Bundesheer zusammen - und leben so diese europäische Friedensgemeinschaft.

Aber von der Gemeinschaft und der Idee des Friedens dahinter spricht niemand. Und wenn Europa nicht vermitteln kann, wofür es steht, haben nationalistische und populistische Gedanken Zulauf. Da kann ich die Briten in gewisser Weise verstehen, wenn sie sich gegen dieses oberflächliche Europa wenden. Weil das Gefühl fehlt, was es bedeutet, Europäer zu sein.

Michael Stadler ist Industriemeister für Fruchtsaft, Getränke und Lebensmittel und übernahm 2013 den Familienbetrieb in Piding. Der Firmensitz der Kelterei ist in Deutschland, die gesamte Produktion wurde 2015 nach Slowenien verlegt.

Heimat ist ein Gefühl, heißt es immer. Das geht mir schon auch so. Wobei sich für mich Heimatgefühl schlecht von meinem Beruf trennen lässt. Im Grunde empfinde ich überall Heimat, wo ich meinen Beruf verwirklichen kann. Also überall, wo Natur ist und wo ich die Rohwaren, die ich vorfinde, zu Saft oder Limonade machen kann. Wenn ich Heu aus dem Naturpark Berchtesgaden zu Limonade verarbeiten kann, ist das für mich genauso heimatlich wie damals, als ich vor einigen Jahren in den Kongo geflogen bin, um den Menschen dort zu zeigen, wie sie aus Mangos und Bananen Fruchtsaft gewinnen. Das verbindet, hier wie da.

Ich bin heimatverbunden, weil ich immer noch im Berchtesgadener Land lebe. Inzwischen habe ich aber in Slowenien, wohin ich die Produktion verlegt habe, eine Art zweite Heimat gefunden. Vor allem, weil die Familie, die hinter dem Betrieb dort steht, ähnlich offen ist wie meine Familie. Das setzt sich bis ins Unternehmen durch: Ich spreche etwas Slowenisch, einige unserer zehn Mitarbeiter von dort lernen Deutsch und können sogar ein wenig Bairisch. Zumindest das Schimpfen. Wir sprechen eine Art mitteleuropäischen Mischmasch miteinander. Von daher ist mir der 240 Kilometer entfernte Ort Brezje auch genauso nah am Herzen wie etwa München, das nur 140 Kilometer entfernt liegt. In meinen Augen ist das gelebtes Europa.

Erschrocken über Flüchtende

Natürlich könnte man mir vorwerfen, Europa schamlos auszunutzen. Einen ähnlichen Produktionsbetrieb in Deutschland aufzubauen, wie ich ihn nun in Slowenien habe, würde mich finanziell ruinieren. Aber ich habe dem dortigen Firmeninhaber nichts weggenommen, wir haben die Firmen quasi zusammengelegt und versucht, das Beste aus beiden zu vereinen. Insofern ist etwas Neues geschaffen worden.

Und genau so, wie ich in der Hinsicht von Europa profitiere, tun das andere auch. Als 2015 viele Flüchtlinge ins Land kamen, ging durch meine Heimatregion ein Ruck. An der naheliegenden österreichischen Grenze ließen viele Schlepper Flüchtende zurück. Meine Mutter ist im ersten Moment erschrocken, als eines Tages etwa 20 dunkelhäutige Männer durch ihren Obstgarten marschierten. Klar, das gab es vorher bei uns nicht, das kannte man nur aus der "Tagesschau". Aber deswegen muss man doch nicht gleich ganz Europa in Frage stellen. Anders gesagt: Wenn ich mit meinem Unternehmen von Europa profitieren will, muss ich diese Herausforderungen eben in Kauf nehmen. Aber man sollte versuchen, sie konstruktiv anzugehen und nicht mit Abschottung und neuen Grenzen drohen. Ich melde in einer großen Firma mit 27 Teileinheiten ja auch nicht gleich Konkurs an, nur weil der Versand nicht stimmt - das ist Blödsinn.

Nina Schlesener, 35, lebt in ihrem Heimatort Berchtesgaden und arbeitet als Bergführerin - nicht nur in Berchtesgaden, sondern europaweit.

Heimat ist für mich ganz wichtig, um die physische und psychische Gesundheit aufrechtzuerhalten. Es ist ein Ort, an den man sich geerdet fühlt, sich regenerieren und seinen Geist zur Ruhe bringen kann. Das ist für mich Berchtesgaden, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Hier liegen meine Wurzeln. Als Bergführerin bin ich viel unterwegs, europaweit sogar. Ich brauche deshalb einen Ort, an den ich immer zurückkehren und mich erholen kann. Eine Art seelische Tankstelle sozusagen.

Wenn ich Touren in Österreich, Italien und Frankreich führe, freue ich mich am Ende schon jedes Mal auf daheim. Und diese Heimatverbundenheit hatte ich schon immer. Natürlich wollte ich nach dem Abitur auch weg und bin zum Studium nach Salzburg gezogen. Aber so ganz meine Heimat hinter mir lassen, daran habe ich eigentlich nie gedacht. Ich wollte immer wieder zurück nach Berchtesgaden. Viele engt meine Heimatregion ein, geografisch, aber auch mental. Ich kann verstehen, dass das aufs Gemüt schlägt, wenn man nicht rauskommt. Aber da ich viel anderes sehe, habe ich noch nie mit meiner Heimat hadern müssen.

Warum Grenzen etwas Künstliches sind

Unter Europa verstehe ich, mich frei zwischen den einzelnen Ländern bewegen zu können. Wie angenehm diese Reisefreiheit ist, merke ich gerade wieder, wenn an der österreichisch-deutschen Grenze kontrolliert wird. Österreich ist von Berchtesgaden aus sehr nah und es ist für mich selbstverständlich, "mal eben" nach Salzburg zu fahren. Aber jetzt werde ich manchmal zur Ausweiskontrolle angehalten. Und da merkt man erst - auch wenn es nur wenige Minuten sind -, wie selbstverständlich es vorher war, nach Österreich zu fahren.

Und das aufzugeben, weil manche sich nationale Grenzen zurückwünschen, kann ich mir einfach nicht vorstellen. Auch, weil Grenzen doch etwas Künstliches sind. In der Natur spielt das überhaupt keine Rolle, auch auf dem Berg nicht. Aus diesem Grund ist mir die Skepsis vieler gegenüber Europa fremd. In Berchtesgaden etwa gibt es eine Skitour, die Kleine Reibn, da bewegt man sich abwechselnd in Österreich und in Deutschland - ständig, ohne groß drüber nachzudenken. Das interessiert in den Bergen niemanden. Vielleicht weil es da um Wichtigeres geht, um das Naturgefühl, darum, sich selbst zu spüren oder einfach darum, sicher auf den Berg zu kommen. Auch unter den Menschen, die mich engagieren, merke ich keine Skepsis gegenüber Europa. Im Gegenteil, die wollen ja zumindest den alpinen Teil von Europa erkunden.

Der 66-jährige Ljupco Gjelevski betreibt in Bad Reichenhall ein kleines Café. Ursprünglich kommt er aus Mazedonien, lebt aber schon seit mehr als 40 Jahren im deutsch-österreichischen Grenzgebiet. Anfangs in Hallein, dann in Ramsau und Bad Reichenhall.

Wer hätte damals geahnt, dass ich hierbleibe! 1978 bin ich aus Mazedonien ins österreichische Hallein gefahren, zu Besuch. Ich wollte einen Monat bleiben, vielleicht zwei - der Liebe wegen. Nun bin ich nach mehr als 40 Jahren immer noch da. Und ich fühle mich hier nicht nur wohl, Bad Reichenhall ist meine Heimat geworden.

Heimat gibt es für mich nicht nur einmal. Meine erste Heimat ist Mazedonien, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Diese Heimat bleibt einem ewig, weil man da seine Wurzeln hat. Aber meine zweite Heimat ist hier in Bad Reichenhall. Manchmal komme ich da im Kopf schon durcheinander. Wenn ich in Mazedonien bin und zurückfahre, sage ich: "Ich fahre nach Hause." Das sage ich aber auch, wenn ich von hier aus nach Mazedonien aufbreche.

Drei Monate hier, drei Monate dort

Anfangs war es hier ganz schön hart. Zwei Jahre lang habe ich in einem Wirtshaus in Ramsau bei Berchtesgaden gearbeitet - da war die Geschichte in Hallein schon vorbei -, ohne jemanden zu kennen und vor allem, ohne gut Deutsch zu können. In dieser Zeit habe ich kein einziges Mal meine Muttersprache gehört. Da hatte ich großes Heimweh. Jetzt, im Nachhinein ist mir klar, dass das ganz gut war. Anders hätte ich nie so gut Deutsch gelernt.

Inzwischen will ich gar nicht mehr zurück nach Mazedonien. Zumindest nicht ganz. Wegen der Kinder und natürlich auch, weil ich mich hier wohl fühle. Mit der Zeit gewöhnt man sich einfach an einen Ort. Mich kennen hier viele durch mein Café. Die kommen immer wieder, kennen meinen Namen und sind über die Jahre zu Freunden geworden. Aus diesem Grund werde ich pendeln - drei Monate hier, drei Monate in Mazedonien. Heimatwechsel sozusagen.

Leider teilen meine Kinder diese Heimaten nicht. Anfangs dachte ich noch, sie würden später vielleicht zurück nach Mazedonien gehen. Ich habe dort ein Haus gekauft, Felder, weil man muss ja was haben für die Kinder. Aber sie sind nicht mehr so mit Mazedonien verbunden wie ich. Die beiden älteren konnten früher die Sprache, aber mit der Zeit haben sie das verlernt. Und nachdem meine Eltern gestorben sind, fehlt für sie der Anknüpfungspunkt. Jeder geht seiner Wege. Aber es ist ja so: Als ich jung war, war ich genauso frei wie meine Kinder jetzt.

Dorothea Biehler, 1969 geboren in Berlin, ist Dramaturgin im Mozarteumorchester Salzburg und sitzt außerdem im Vorstand der Bad Reichenhaller Philharmoniker.

An einen Ort ist Heimat für mich nicht gebunden. Vielleicht, weil meine Familie schon kurz nach meiner Geburt aus Berlin nach Franken umgezogen ist. Und ich dadurch mit sesshaft werden oder Wurzeln schlagen nichts anfangen kann. Mein Traditionsgefühl ist nicht besonders ausgeprägt, denn so schön Traditionen sein mögen, sie schränken mich in meiner Flexibilität ein. Auch mit Heimatliedern und -vereinen tue ich mir schwer.

Wenn mich jemand fragt, wo ich daheim bin, dann sage ich Salzburg, wo ich seit fünf Jahren lebe. Zuvor hätte ich aber Barcelona geantwortet. Ich fühle mich eigentlich immer da zu Hause, wo ich gerade bin. Aber dass ich jetzt eine geografische Heimat hätte - nein.

Vielleicht ist es meine Art, mich immer mit dem, was da ist, arrangieren zu können. Wenn man ein bisschen offen ist, findet man auch recht schnell die richtigen Leute. Und ob die aus China, Spanien oder Südamerika kommen, ist egal. Aus diesem Grund gibt es für mich auch keine geografischen Grenzen, sondern eher ideologische. Was mich und Freunde verbindet, ist einfach die Art, wie wir unser Leben führen, worauf wir Wert legen und was uns wichtig ist. Nicht, welche Sprache wir sprechen oder aus welchem Land wir kommen. Und natürlich verbindet uns die Musik, denn ich war 25 Jahre lang professionelle Geigerin - und musiziere in meiner Freizeit auch heute noch.

Woher jemand kommt, ist egal

Im Orchester merkt man Vorurteile gegenüber anderen Nationen oder Herkunft gar nicht. Musiker sind daran gewöhnt, mit Kollegen aus allen möglichen Nationen zusammenzuspielen. Da ist es völlig egal, woher die kommen. Und um gemeinsam Musik zu machen, braucht man ja nicht mal Worte. Auch mein Mann ist Musiker und wir kennen es tatsächlich gar nicht anders, als mit Menschen aus aller Welt zusammenzuarbeiten. Vielleicht ist es tatsächlich so, dass wir am ehesten in der Musik zu Hause sind. Vielleicht ist die Musik das Heimatliche bei mir. Aber wo, ist jedes Mal anders.

Europa wiederum ist tief in meinem Leben verankert, weil ich schon an vielen unterschiedlichen Orten gelebt habe. In Deutschland sowieso, aber vor allem elf Jahre in Barcelona und nun eben in Salzburg. Und gerade arbeite ich sozusagen grenzübergreifend. Mein Wohnort ist Salzburg und hier arbeite ich auch im Mozarteumorchester, aber wenn ich für die Philharmoniker in Bad Reichenhall zu tun habe, bin ich zwangsläufig in Deutschland. Also führt mich die Musik mal nach Deutschland, mal nach Österreich. Auch privat fahren wir oft über die Grenze, die wir aber schon gar nicht mehr wahrnehmen. Wenn es die Europäische Union oder Europa als Ganzes nicht mehr gäbe, würde mir das sehr fehlen.

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