Süddeutsche Zeitung

Werk der Wahl:Die Geburt der Land-Art

André Behncke findet das metaphysische München in Michael Heizers "Optical Painting" im Lenbachhaus

Gastbeitrag von André Behncke

Jüngst entdeckte ich im Lenbachhaus Michael Heizers "Optical Painting" aus dem Jahre 1972, eine Interpretation der Munich Depression, mit der die Reihe der Land-Art-Projekte 1969 in Europa wie ein Paukenschlag begann. "Mal kein Blockbuster", dachte ich, "sondern ein leicht übersehbares, aber fundamentales Werk der zeitgenössischen Kunst zum Thema the presence of absence."

Was wir sehen (presence), ist die grafische minimalistische Abstraktion von einem verschwundenen (absence) überdimensionalen Land-Art-Werk. Der amerikanische Künstler Michael Heizer ließ 1969 auf einem Baugelände in München-Perlach für die Galerie Heiner Friedrich einen weiten Erdtrichter mit einem Durchmesser von 30 Metern und einer Tiefe von vier Metern ausheben, der begehbar war, sodass beim Hinabsteigen die ersten schon vorhandenen Wohnzeilen der "Entlastungsstadt" aus dem Blickfeld verschwanden und schließlich nur mehr der Himmel zu sehen war.

Mit einem Erdaushub von etwa 1000 Tonnen war "Munich Depression" die erste große landschaftsbezogene Arbeit Heizers in Europa. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es eigentlich nur den Landschaftsgarten. Diese Radikalität ist schon beeindruckend: Ein 30 Meter großes Loch in einer kunstfremden Stadtgegend hat ein Kaliber, als wollte es mit echten Baugrundlöchern konkurrieren. Mit einem Schlag wurde klar, was eigentlich Grenzerweiterung in der Kunst bedeutet - die europäische Geburt der Land-Art fand in München statt.

Mein Professor Vittorio Gregotti in Mailand stellte mir 1996 Michael Heizer anlässlich seiner Solo-Show "Michael Heizer: Negative - Positive +" in der Fondazione Prada vor. Bis heute beschäftige ich mich mit der Idee der Abstraktion in der Architektur und der architektonischen Geste, die überdauert. Die architektonische Verbindung zur "Munich Depression" ist Heizers Beschreibung des Werks als "negative Gothic Chapel". Wie in einer gotischen Kathedrale erlebte man im Inneren des Erdtrichters eine spirituelle Himmelserfahrung. Heizer hinterließ eine menschliche Geste in der Natur, eine Dimension, die aus allen Entfernungen sichtbar war, wie beispielsweise eine aztekische Pyramide. In der Architektur schafft angesichts einer großen Komplexität von Gebäuden eine klare, in ihrer Formensprache reduzierte Geste Ordnung und lässt Raum für Entfaltung. In diesem Sinne mag ich Lösungen, die als eine minimalistische Geste zum ordnenden Element in der umgebenden Architektur und Landschaft werden.

Die Frage ist immer für mich, wie weit auch Architektur skulptural zur künstlerischen Geste werden kann. Ich frage mich, gibt es Gesten, die einen höheren Wirkungsgrad haben, um zu bleiben. "Munich Depression" - Erdreich, das wie eine Reliefplatte ausgehöhlt wird -, aber auch das grafische "Munich Optical Painting", sehe ich in Anspielung an Künstlerpositionen wie Lucio Fontana, Henry Moore oder Hans Arp. Zeitgenössisch gedacht, treibt diese Fragestellung zum Beispiel Tino Seghal auf die Spitze, dessen Performance nur im Zusammenspiel mit dem Publikum überhaupt existiert.

Auch deswegen fasziniert mich Michael Heizer, da er dieses Prinzip der Grenzerfahrung schon in den Siebzigerjahren realisiert hat. Heizers "Munich Depression" sprengt die Idee, dass Kunst im Museum stattfindet. Das Kunstwerk wirkt im Dialog mit seinem Kontext aus Himmel und Erde. Die Umgebung wird "das Museum". Da das Gelände wenig später überbaut wurde, ist die Münchner Versenkung heute nur noch als fotografische Dokumentation erlebbar oder eben die daraus folgende grafische Umsetzung des Erdtrichters in dem "Munich Optical Painting". Es ist bis heute unglaublich, dass nicht London, nicht Paris, nicht Wien, sondern München 1969 diesen Krater mitten in einem Wohngebiet ermöglichte. Hinter Michael Heizers subtiler grafischer Arbeit im Lenbachhaus versteckt sich das metaphysische München.

Städtische Galerie im Lenbachhaus, Luisenstraße 33, Di 10-21 Uhr, Mi-So, 10-18 Uhr

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Quelle:
SZ vom 23.09.2015
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